Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
Menschen. Sie steht vor ihm und ist bereit. Zusammen gehen sie aus dem Haus.
»Papa«, sagt sie, »du hast eine Beule im Auto.«
Charlo starrt einen Moment lang den Asphalt an, denkt an alles, wovor er sich in acht nehmen muß.
»Ja«, sagt er, »da hat so ein Trottel die Vorfahrt nicht beachtet.«
»Du hast versucht, das zu reparieren«, stellt sie fest. »So eine schlampige Reparatur hab ich ja noch nie gesehen. Warum hast du ihn nicht in die Werkstatt gebracht? Wenn der andere schuld war, dann muß er doch bezahlen.«
Charlo setzt sich hinter das Lenkrad, überlegt.
»Ich habe den Schaden taxieren und mir das Geld geben lassen«, lügt er. »Ich habe es für andere Dinge gebraucht. Für wichtigere.«
Sie steigt ein und gibt sich mit der Antwort zufrieden, zieht ein Gummi aus der Tasche und bindet sich einen Pferdeschwanz. Er sieht ihren warmen Atem im dunklen Wageninneren. Jetzt habe ich sie, denkt er, jetzt darf ich sie nicht verlieren, ich darf keinen Fehler machen.
»Du«, sagt Julie plötzlich, »weißt du, wozu ich Lust habe? Ehe wir zum Stall fahren?«
Er schaltet und fährt die Straße hinunter, während er auf ihren Wunsch wartet, den er natürlich erfüllen will, das wird er von jetzt ab tun. Das ist seine Mission für den Rest seines Lebens.
»Ich möchte zu Mama fahren.«
Er nickt und ist ganz ihrer Ansicht.
»Das machen wir«, erklärt er, »und zwar sofort. Warst du lange nicht mehr da?«
»Mir fällt das nicht so leicht«, sagt sie leise. Nein, denkt Charlo, man wird nicht froh, wenn man die Toten besucht, immer fühlt er sich unbeholfen, wenn er vor ihrem Stein steht, kommt sich überflüssig vor. Aber jetzt sind sie zu zweit. Er hält vor der Kirche. Sie gehen zwischen den Gräbern, schweigen, jetzt sind sie einander gegenüber verlegen. Dann sind sie da, sie bleiben stehen, stehen mit gesenktem Kopf da. In Gedanken lesen sie beide den Namen, Inga Lill Torp. Anfang Dezember gibt es bei einem Grab nicht viel zu tun. Charlo sieht, daß die Erika gefroren ist, ihr rotlila Farbton ist in Braun übergegangen.
»Aber der Stein ist schön«, sagt Julie, und er nickt, findet, daß er eine gute Wahl getroffen hat.
»Nächstes Mal bringen wir eine Kerze mit«, sagt er.
Sie bleiben eine Weile stehen und hängen ihren Gedanken nach, dann reißen sie sich von dieser Traurigkeit los und gehen wieder zum Auto zurück.
»Bist du gespannt?«
Sie nickt und haucht in ihre Hände, kneift sich aus Jux in den Arm. Wieder muß Charlo lachen. Es ist ein herzliches Lachen, das tief aus ihm herauskommt, er fühlt sich ein wenig berauscht. Er wendet den Wagen und fährt hinaus auf die Schnellstraße. Noch immer sind sie einander gegenüber ein wenig verlegen, und Charlo denkt, das macht nichts, das geht vorbei, wir brauchen Zeit.
»Wir hätten eine Tüte Möhren mitnehmen sollen«, sagt sie.
Er nickt. »In der Nähe vom Stall gibt es einen Laden, da können wir halten. Natürlich brauchen wir Möhren.«
Sie kaufen Möhren und zwei Cola. Aus alter Gewohnheit liest Charlo die Schlagzeilen der Zeitungen, während er vor der Kasse steht, aber Harriet Krohn ist vergessen. Er stellt sich vor, daß der Ordner mit ihrem Fall in einer Schublade begraben ist, denn es gibt so viele andere Morde, so viele andere Dinge, für die man Zeit aufwenden kann, als eine alte Dame aus Hamsund. Er weiß, daß das nicht stimmt. Das System arbeitet weiter, er weiß, daß sie vermutlich in der Stille tätig sind. Wieder verdrängt er diese Gedanken, sie fahren das letzte Stück zum Stall, halten und steigen aus an die kühle Luft. Julie ist jetzt stumm. »Ja«, sagt Charlo. »Jetzt sind wir da. Also machen wir, daß wir ins Warme kommen.«
Sein Herz schlägt ihm bis zum Hals, und er legt ihr den Arm um die Schultern. Öffnet die schwere Tür. Eine schwarze Katze springt heraus und Charlo fährt zusammen. Die Katze weckt seine Erinnerung. Für eine furchtbare Sekunde glaubt er, es sei dieselbe Katze, sie verfolge ihn. Er schüttelt sein Unbehagen ab und zeigt in den Stall.
»Die Box ganz hinten links.«
Julie tritt ans Gitter. Charlo steht neben ihr und betrachtet sie. Die Haare in seinem Nacken sträuben sich.
Sie ist gerade auf die Welt gekommen.
Sie liegt auf Inga Lills Bauch und zittert, nackt und in sich zusammengerollt wie ein rosa Frosch. Sie hat flanellweichen Flaum auf dem Kopf. Charlo denkt, diesen Augenblick werde ich niemals vergessen. Es prägt sich jeder Zelle in seinem Körper ein, wird eingeätzt. So ist auch
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