Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
leise Gefühl, jetzt bereits die Kontrolle zu verlieren. Hier in diesem Zimmer hat er keinerlei Identität, ist nur ein armes Würstchen, und der Mann auf der anderen Schreibtischseite ist ihm in allen Punkten überlegen.
»Diese Kreuzung«, sagt Sejer, »werden wir uns jetzt genau ansehen.« Er erhebt sich und sucht in einem Regalfach voller Papiere herum, kommt mit einer Karte zurück. Charlo sieht darauf eine Kreuzung, auf der mit Filzstift so einiges eingezeichnet wurde.
»Erkennen Sie diese Kreuzung?«
Er schiebt ihm die Karte hin. Charlo mustert Straßen, Pfeile und Kreuzung.
»Ja, so ungefähr«, sagt er. Er will nicht dorthin zurück, alles in ihm sträubt sich bei dieser Vorstellung.
»Da ist der Bahnhof«, sagt Sejer und zeigt darauf. »Können Sie mir sagen, woher Sie gekommen sind?«
»Ich finde es schwer, mich nach so langer Zeit daran zu erinnern.«
»Das verstehe ich.« Sejer nickt, ist verständnisvoll und geduldig. »Aber es ist wichtig für uns, daß Sie das versuchen.«
Er hat das Gefühl, gegen eine Wand zu laufen. Er ist jetzt hier gefangen, er muß antworten. Könnte er um einen Anwalt bitten? Nein, das wäre lächerlich, er steht ja nicht unter Anklage, er ist nur als Zeuge hier.
»Möglicherweise bin ich aus dieser Richtung gekommen«, sagt er und zeigt auf die Karte. Er wagt nicht, in diesem Punkt zu lügen. Die Wahrheit, denkt er, soweit das möglich ist.
Sejer mustert die Karte.
»Fredboes gate«, sagt er deutlich und schaut auf. »Sie sind aus der Fredboes gate gekommen?«
Charlo nickt. Wird von Panik erfaßt, weil alles so schnell geht, weil er sich schon in die Nähe von Harriets Haus gebracht hat.
»Ja«, sagt er und nickt kleinlaut. Erwidert Sejers Blick nicht, sondern vertieft sich mit gespieltem Interesse in die Karte.
»Und das andere Auto?«
»Das war ein Toyota«, sagt Charlo. »Ein Yaris, glaube ich. Der kam von hier.«
Er zeigt darauf, sieht, daß die Straße Holtegate heißt. Sejer nickt zufrieden.
»Kann es am 7. November gewesen sein?«
Charlo beugt sich über den Tisch, ringt um Konzentration. Wieder sieht er den Hund an, der vor der Wand liegt. Der bewegt sich nicht. Er sieht eigentlich aus wie ein Stofftier, das ein Kind weggeworfen hat.
»Es kann schon im November gewesen sein«, sagt er. »Aber genauer weiß ich das nicht mehr. Damals war ich arbeitslos«, fügt er hinzu, wird fortgerissen von einem Wortschwall, kann nicht dagegen an. »Und die Tage gingen einfach ineinander über, ich konnte einen nicht vom anderen unterscheiden, deshalb werfe ich die Daten durcheinander. Jetzt habe ich Arbeit im Reitzentrum«, fügt er hinzu, »keine volle Stelle, aber es hilft. Kann mich nützlich machen, kann meinen Körper benutzen, Sie wissen schon. Ja, ich habe beim Sozialamt Bescheid gesagt, die kürzen die Stütze, je nachdem, was ich verdiene. Ich bin ein ehrlicher Mann«, endet er und schaut dem Hauptkommissar trotzig ins Gesicht.
Nach diesem Sermon schweigt Sejer. Charlo spürt, wie rot seine Wangen sind. Er reißt sich zusammen, wird jetzt nur noch auf Fragen antworten, sich nicht so gehenlassen. Aber in ihm sitzt ein Druck, der Drang, sich zu verteidigen, daß er das nicht wollte, nicht so gemeint hatte, daß er einfach gefangen war von der Situation und der Angst. Von einer eigenen verzweifelten Not.
»Aber es kann am 7. gewesen sein?« fragt Sejer noch einmal.
Charlo zuckt mit den Schultern. »Kann schon sein. Ja«, sagt er und wird zum ersten Mal aufbrausend. »Ich nehme an, der Knabe im Toyota hat Sie zu mir geführt. Ob er meine Nummer notiert hat oder was auch immer, das weiß ich nicht, aber wenn er sagt, daß es am 7. war, dann stimmt das wohl.«
Sofort bereut er diesen Ausbruch.
»Es war am 7.«, sagt Sejer leise.
Wieder macht er sich Notizen. Danach faltet er auf dem Tisch die Hände. In Charlo wird alles eiskalt. Er kann das Ende nicht absehen. Jetzt fängt er an, denkt er. Der Alptraum. Sie haben mich im Menschengewimmel gefunden, er begreift nicht, wie sie das geschafft haben.
»Ja, er hat Teile Ihres Nummernschildes notiert. Können Sie sich denken, warum?«
Charlo bleibt stumm. Er schaut wieder den Hund an, es tut ihm gut, die Augen auf dem schlafenden Tier ruhen zu lassen.
»Nein«, sagt er und zuckt mit den Schultern. Sejer beugt sich über den Tisch vor und ist ihm plötzlich ganz nah.
»Er hat Sie sehr mitgenommen. Dieser Zusammenstoß?«
Seine Stimme hat jetzt einen mitfühlenden Klang. Charlo fährt sich übers Kinn.
»Ja,
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