Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
er hat mich mitgenommen. Ich nehme an, Sie haben schon alles gehört. Ich habe einfach die Beherrschung verloren. Ich fand, daß er wie ein Idiot gefahren ist, und ich habe mich ziemlich aufgeregt. Das wäre doch jedem passiert, in einer solchen Situation. Aber was hat er denn eigentlich gesagt? Hat er sich bedroht gefühlt? Ich habe ihm wirklich nicht gedroht, ich habe nur vollständig die Beherrschung verloren. Mein Leben war damals nicht leicht«, gibt er zu, mit einem Anflug von Selbstmitleid, »ich hatte eine kurze Lunte. Das ist doch menschlich, das ist kein Verbrechen.«
Dieses Wort rutscht ihm einfach so heraus. Er läßt sich wieder zurücksinken, will das Gespräch steuern, aber das läßt sich nicht steuern.
»Ihr Leben war nicht leicht«, sagt Sejer. »Können Sie darüber etwas mehr sagen?«
»Ich begreife wirklich nicht, was mein Leben damit zu tun haben soll«, sagt Charlo eilig. »Sie haben gesagt, daß ich als Zeuge gebraucht werde. Und Sie nerven mich mit diesem Unfall und überhaupt. Was wollen Sie eigentlich von mir?«
Sejer nimmt den Kugelschreiber wieder in die Hand. Hält ihn zwischen den Fingern.
»Daß Sie nicht begreifen, warum ich diese Fragen stelle, kann ich sehr gut verstehen. Aber ich habe meine Gründe.«
Charlo zögert, er wagt es nicht, Ärger zu machen. Die Gefahr, sich zu versprechen, ist dann größer, besser, er zeigt sich kooperativ. Er kommt zu dem Schluß, daß die Wahrheit das beste ist.
»Das habe ich doch schon erzählt«, sagt er. »Ich war arbeitslos. Hatte nichts, wo ich hingehen konnte. Kein Geld. Sie wissen schon. Es ist tödlich, arbeitslos zu sein, man verliert das Selbstwertgefühl. Die Selbstachtung, Würde, man weicht den Leuten aus, bringt es nicht über sich, auf Fragen zu antworten. Die Tage werden zu einer Hölle, man kann nachts nicht schlafen und kommt dafür morgens nicht hoch. Kochen ist eine Plage. Ein Gefühl, vom Karussell gefallen zu sein, dazustehen und allen anderen, die noch immer mitfahren, zuzusehen. Wie ein Zuschauer im Leben.«
»Aber jetzt geht es Ihnen besser? Darf ich das so verstehen?«
Charlo nickt schweigend. Preßt die Lippen aufeinander.
Sejer trinkt einen Schluck Mineralwasser.
»Lassen Sie uns der Reihe nach gehen«, sagt er dann. »Sie kamen von der Fredboes gate her.« In dem Moment, in dem er »Fredboes gate« sagt, schaut er zu Charlo auf. »Sie nähern sich dieser Kreuzung. Es war schlechtes Wetter am 7. November, spiegelglatt. Schneeregen.«
»Stimmt.«
»Um welche Uhrzeit ist es passiert?«
»Ach, das muß so gegen zehn gewesen sein. Oder halb elf vielleicht, ich weiß es nicht mehr genau.«
»Haben Sie den Wagen kommen sehen?«
»Ja. Aber ich war in Gedanken versunken, ich war sicher, daß er das Vorfahrtsschild gesehen hatte, und natürlich hat er gebremst, aber der Wagen rutschte auf diesem verdammt glatten Boden einfach weiter. Toyota Yaris, wissen Sie. Keine Spikes. Müßte verboten sein, im Winter solche Wagen zu fahren. Müßte überhaupt verboten sein, sie zu fahren. Sardinendose auf Rädern!«
»Also«, sagte Sejer. »Es hat geknallt. Was haben Sie gemacht?«
»Ich blieb eine Weile hinter dem Lenkrad sitzen. War benommen. Ich konnte in sein Auto hineinsehen, es war ein Junge, er sah verängstigt aus.«
»Erzählen Sie weiter«, sagt Sejer.
»Ich machte die Tür auf und stieg aus. Riß seine Autotür auf und schrie los. Das war natürlich schrecklich kindisch, aber ich konnte mich einfach nicht beherrschen.«
»Wie hat der Junge reagiert?«
»Sie haben doch sicher mit ihm geredet«, sagt Charlo und will wieder ausweichen. Er will nach Hause. Er weiß nicht, ob er das hier richtig macht. Doch, er macht es hervorragend, er sagt die Wahrheit, das ist einfach. Noch ist es einfach.
»Ja, aber ich muß auch wissen, wie Sie diese Situation erlebt haben. Verstehen Sie?«
Charlo scheint zu erwachen. Er steckt jetzt mittendrin, er steht bis zur Taille in eiskaltem Wasser.
»Aber warum nervt ihr so mit diesem Unfall herum?« fragt er und sieht Sejer an.
Der Hauptkommissar sieht ihn an.
»Unsere Beweggründe, die Fragen zu stellen, die wir stellen, brauchen wir nicht zu rechtfertigen«, sagt er. »Was für uns interessant ist, ist, daß Sie sich zu einem Zeitpunkt in Hamsund befanden, der in diesem Fall, an dem ich arbeite, entscheidend ist.«
»Und was ist das für ein Fall?« fragt Charlo. Er hält den Atem an, während er auf die Antwort wartet.
»Ein Mordfall«, sagt Sejer ruhig. Er fängt Charlos
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