Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
auf. Er lügt wie gedruckt, die Lügen laufen ihm wie dicke Soße über den Rücken, und es kostet ihn keine Kraft. Er dankt Gott für diese Fähigkeit, sich zu verstellen, die Menschen müssen sich verstellen, sonst erfüllen sie die Erwartungen der anderen nicht, und er ist gut, denn er ist dazu gezwungen. Sie entspannt sich wieder, seufzt tief, schüttelt ihren roten Schopf.
»Oma ist sehr alt«, sagt er leise. »Sie hat total den Überblick verloren.«
»Ich weiß«, sagt Julie.
»Sie hält mich für zweiundzwanzig. Und sie glaubt, daß Mama noch lebt.«
»Ja.«
»Alte Leute haben solche Angst«, sagt er. »Und aus Angst entsteht Verwirrung.«
»Aber zwischendurch ist sie dann wieder kristallklar.«
»Für kurze Momente. Davon darfst du dich nicht täuschen lassen. Hat sie dich sofort erkannt?«
»Erst, als ich etwas gesagt habe.«
»Na also. So ist das. Stimmen verwechselt sie nie. Habe ich dich beruhigen können? Liebes Kind! Nun sag schon.«
Sie lächelt tapfer, scheint sich zu schämen.
»Es ist nur, weil ich solche Angst habe«, sagt sie. »Ich habe Angst, das zu verlieren, was ich endlich bekommen habe.«
Er schaut sie eindringlich an. »Das wird nie passieren.« Zugleich ballt er auf seinen Knien die Fäuste. Er kommt sich vor wie ein Stier, der auf einen Abgrund zuläuft. Er rennt immer weiter, weigert sich, zu den Seiten zu blicken, es geht, so lange es geht. Lange sitzen sie dann da und spielen an ihren Gläsern herum.
LANGSAM LÄSST sie sich durch seine Beteuerungen beruhigen. Wieder lehnt sie sich vertrauensvoll an ihn und konzentriert sich auf den Augenblick. Auf die Arbeit, die getan werden muß. Sie nimmt Unterstützung und Hilfe und Trost an, sie fängt an zu glauben, daß das von Dauer sein wird.
Denn die Zeit vergeht, und nichts passiert. Charlo hört nichts mehr von der Polizei. Aber er schaut sich immer wieder über die Schulter, er sieht alle Zeitungen durch, um herauszufinden, ob etwas passiert. Das Leben kommt langsam wieder zur Ruhe. In jeder einzelnen Stunde weiß er, was er zu tun hat, die Tage vergehen schnell. Seine Form wird immer besser. Er schuftet und hebt und trägt, das Blut strömt durch seinen Körper, er ist immer so warm, so stark. Er ißt gut und schläft gut. Die Nächte sind traumlos, oder er kann sich an die Träume nicht erinnern, er erwacht mit einem Gefühl von Fassungslosigkeit, daß er immer wieder einen neuen Tag bekommt. Daß der vor ihm liegt zur freien Benutzung, daß er noch immer ein freier Mann ist. Er kommt finanziell über die Runden, er hat keine teuren Angewohnheiten, er kauft zum Essen und ab und zu ein Päckchen Tabak, er trinkt nicht mehr. So soll es immer sein, denkt er, Julie und ich zusammen. Harte Arbeit und Ordnung. Er steht jetzt im Licht, endlich ist er an der Reihe.
Im März nimmt Julie mit Crazy an ihrem ersten Wettbewerb teil und wird Zweite. Charlo steht mit Tränen in den Augen auf der Zuschauertribüne. Er ist so stolz, daß sein Hemd spannt. Sie reitet im Frack, mit einem kleinen schwarzen Zylinder und weißen Handschuhen. Sie hat Crazy die Mähne geflochten und mit Showshine besprüht, kein anderes Pferd glitzert so wie er. Das hier war unser Ziel, denkt Charlo. Das hier haben wir verdient. Aber ab und zu ärgert er sich, denn er kann nicht immer scharf sehen. Der Blick trübt sich, oder er sieht doppelt. Dann muß er einige Male heftig blinzeln, und nach einiger Zeit ist seine Sicht dann wieder klar. Na gut, denkt er, dann ist jetzt vielleicht wirklich eine Brille angesagt. Gott und die Welt haben eine Brille, kleine Kinder tragen eine Brille, warum sollte mir das erspart bleiben? Die Zeit fordert ihren Tribut, und ich werde langsam gebrechlicher. Das kommt ihm nicht beängstigend vor, sondern irritiert ihn nur etwas. Endlich rafft er sich auf und macht einen Termin bei einer Optikerin. Ist zur verabredeten Zeit dort, setzt sich auf den Stuhl und befolgt ihre Befehle. Die junge Optikerin sitzt auf einem Stuhl mit Rädern und rückt ganz dicht an ihn heran. Sie ist so überwältigend nah, er kann ihre Haut riechen. Er liest die Buchstaben an der Wand. Aber an diesem Tag ist seine Sicht perfekt, er sieht alles, kristallklar. Er ist verärgert und erleichtert zugleich.
»Es kommt und geht«, erklärt er.
»Ja«, sagt sie und rollt zurück, »die Sicht kann sich von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde ändern. Das ist ganz normal. Aber so, wie es jetzt ist, habe ich nicht den Eindruck, daß Sie eine Brille brauchen.«
Er
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