Der Mord des Jahrhunderts - Collins, P: Mord des Jahrhunderts
Straßenbahnhaltestelle. Während die Jury einen privaten Wagen in Beschlag nahm, rangelten die Reporter um Plätze im nächsten Abteil. Ein Künstler des Evening Journal eilte herbei und hielt die Szene flugs in einer Tuschzeichnung fest. Ref 835
»So wird das nichts«, belehrte ihn ein Kollege. »Ein einzelner Vogel kann ein solches Format unmöglich befördern.« Als der Zeichner verärgert seinen Fehler erkannte, riss er das Blatt kurzerhand in der Mitte durch. Die beiden Hälften würden von verschiedenen Tauben über den Fluss geschickt werden.
Die Geschworenen selbst würden die Zeichnungen nicht zu sehen bekommen – dafür trug Captain Methven Sorge. Er hatte seinen Schützlingen jeglichen Lesestoff in ihrer freien Zeit untersagt – »nichts außer die Speisekarten im Hotel«, erklärte er. Doch die zwölf Männer, die soeben in ihrem Wagen Platz nahmen, hatten es freundlich aufgenommen und sich am Vorabend sogar die Zeit damit vertrieben, eine Bruderschaft zu gründen. Nachdem sie zunächst überlegt hatten, sich »Thorny-Klub«
zu nennen, entschieden sie sich schließlich für »Klub des Guten« – denn was lange währt, wird selbstverständlich schließlich gut. Sie besiegelten ihren Bund mit Zigarren, die sie herumreichten, vereinbarten einen Termin für ein Gruppenfoto und spielten ihren Aufpassern von der Polizei einen vergnügten Streich, indem sie deren Flinten am hoteleigenen Tontaubenschießstand mit Platzpatronen luden. »Nächstes Jahr um dieselbe Zeit«, versprachen die Geschworenen den Polizisten übermütig. »Wir laden euch zum Essen ein.« Ref 836 Ref 837 Ref 838
Doch nun ging es darum, ihre staatsbürgerliche Pflicht zu erfüllen.
Die Prozession – die Geschworenen und ihre Polizeieskorte abgesondert in ihrem eigenen zugigen Straßenbahnwagen, gefolgt von einem Korso Reportern und Zuschauern – rollte in getragenem Tempo vorbei an Saloons, in denen Grog verkauft wurde, an eingespannten Pferden, die die Kälte von sich abschüttelten, an Gewächshäusern, deren Scheiben vom Winter beschlagen waren. Als der Konvoi die verschlafene Straßenecke an der Second Avenue erreichte, hatte sich dort bereits eine Menschenmenge vor dem Haus versammelt, das von den Einheimischen fröhlich »Mrs Nacks Außenstelle« genannt wurde. Ref 839
»Woodside Cottage – alle aussteigen!«, rief der Schaffner seinen Fahrgästen zu, und die zwölf Männer stiegen aus dem Wagen und näherten sich dem Tatort. Ref 840
Es hatte sich kaum etwas verändert. Ref 841
Die Bäume waren inzwischen kahl, das Gras im Garten stand hoch und war ungemäht, sonst aber glich alles den Titelseiten von vergangenem Sommer. Die Fenster des Hauses schlummerten hinter geschlossenen Läden und nahmen keine Notiz von den Männern, die durch Morast und Eis auf die knarrende Holzveranda stapften. Dort blieben sie stehen und warteten,
während Detective Sullivan einen Schüssel hervorzog und ins Schloss steckte.
»Zurück, zurück!«, riefen hinter ihnen Polizisten und scheuchten Schaulustige hinter die Grundstücksgrenze. Ref 842
Die Tür ächzte in den Angeln, und einer nach dem anderen traten die Geschworenen in den abgedunkelten Salon. Die Luft in dem unbeheizten Haus war so kühl, dass sie ihren Atem vor sich sehen konnten. Da der Strom schon vor langer Zeit abgestellt worden war, machte sich Detective Sullivan sogleich daran, die Fensterläden aufzustoßen, um das gedämpfte Licht des Wintermorgens hereinzulassen. »Hier entlang«, dirigierte er die Geschworenen nach unten. Er war damals im Sommer einer der Ersten gewesen, der das Haus inspiziert hatte, und kannte es daher gut. Unten im Keller lagen die zerschlagenen Überreste eines Kamins; darin klaffte ein Loch. Auf der Suche nach Guldensuppes Kopf hatten Beamte das Mauerwerk mit Vorschlaghämmern bearbeitet. Ein Blick in das Loch verriet, warum die Suche erfolglos geblieben war: Die Öffnung im Inneren war kaum zehn Zentimeter breit. Ref 843
Zurück im Erdgeschoss gingen sie durch den Salon in die Küche, wo sie in den schwarzen Gussofen schauten, in dem der beinahe eingeäscherte Schuh des Toten gefunden worden war, dann stiegen sie die steile Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. Ihre Schritte hallten laut und hohl durch die Flure. Es war ein einfaches Häuschen, billig gebaut und nicht eben groß, mit gerade einmal zwei Schlafzimmern und einem Badezimmer im Obergeschoss. Nur mit knapper Mühe passten die Geschworenen in das vordere Schlafzimmer, an dessen Wänden
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