Der Mord zum Sonnntag
«Das sieht aber Sammy gar nicht ähnlich, nicht
sofort auszupacken.»
Scott öffnete den Koffer. Obenauf lag ein Kulturbeutel
voller Pillenfläschchen. Er las die Gebrauchsanweisung:
«Zweimal täglich im Abstand von vier Stunden eine
Tablette, vor dem Schlafengehen zwei Tabletten.» Er
runzelte die Stirn. «Sammy war sehr korrekt, auch mit
ihren Medikamenten. Sie wollte jedes Risiko vermeiden.
Min, zeigen Sie mir, in welchem Zustand Sie das Büro
vorgefunden haben.»
Der Fotokopierer verursachte ihm anscheinend das
meiste Kopfzerbrechen. «Das Fenster stand offen. Das
Gerät war eingeschaltet.»
Er stand davor und sinnierte. «Sie wollte etwas
fotokopieren. Sie schaute aus dem Fenster – und dann
was? Ihr wurde schwindlig? Sie wanderte nach draußen?
Aber wohin wollte sie gehen?» Er starrte aus dem Fenster.
Von hier aus überblickte man die weite Rasenfläche im
Süden, die verstreuten Bungalows am Weg zum großen
Schwimmbecken und zum römischen Bad, diesem
monströsen Bauwerk.
«Sie sagen, das gesamte Gelände, jedes Gebäude wurde
abgesucht?»
«Ja», versicherte Helmut wie aus der Pistole geschossen.
«Dafür habe ich persönlich gesorgt.»
Scott fiel ihm ins Wort. «Wir fangen das Ganze noch
mal von vorn an.»
Die nächsten Stunden verbrachte Elizabeth an Sammys
Schreibtisch. Sie sah Dutzende von Briefen durch und
bekam allmählich taube Finger. Immer dasselbe –
Autogrammwünsche, Bitten um ein Foto. Bis jetzt keine
Spur von weiteren anonymen Briefen.
Um zwei Uhr hörte sie einen Schrei. Sie stürzte zum
Fenster und sah einen Polizisten in der Tür zum römischen
Bad wie wild gestikulieren. Ihre Füße flogen die Treppe
hinunter. Auf der vorletzten Stufe stolperte sie und fiel
hin, schlug mit Armen und Beinen auf die gewienerten
Fliesen. Ohne auf die heftig schmerzenden Handflächen
und Knie zu achten, rannte sie über den Rasen zu den
Thermen, wo sie gerade anlangte, als Scott drinnen
verschwand. Sie folgte ihm durch den Umkleideraum zu
den Becken.
Neben dem ersten Becken stand ein Polizist und zeigte
auf Sammys verkrümmten leblosen Körper.
Später erinnerte sie sich dunkel, daß sie neben Sammy
gekniet, die Hand ausgestreckt hatte, um ihr das
blutverklebte Haar aus der Stirn zu streichen, erinnerte
sich an Scotts eisernen Griff, an seinen scharfen
Befehlston: «Keine Berührung!» Sammys weit
aufgerissene Augen, die schreckerstarrten Züge, die
verrutschte Brille, die abwehrend ausgestreckten Hände,
als stoße sie etwas zurück … Die beigefarbene Strickjacke
war noch zugeknöpft, die weiten aufgesetzten Taschen
fielen plötzlich ins Auge. «Sehen Sie nach, ob sie den
Brief an Leila noch hat», hörte sich Elizabeth sagen.
«Untersuchen Sie die Taschen.» Dann weiteten sich auch
ihre Augen vor Entsetzen. Die beigefarbene Strickjacke
wurde zu Leilas weißem Seidenpyjama, und sie kniete
wieder über Leilas Leiche.
Barmherzige Ohnmacht umfing sie.
Als sie das Bewußtsein wiedererlangte, lag sie auf dem
Bett in ihrem Bungalow. Helmut beugte sich über sie; hielt
ihr etwas scharf und beißend Riechendes unter die Nase.
Min rieb ihr die Hände warm. Wildes Schluchzen
durchschüttelte sie, und sie hörte sich sagen:
«Nicht auch noch Sammy, nicht auch noch Sammy …»
Min hielt sie fest. «Ruhig, Elizabeth … Ganz ruhig.»
Helmut murmelte: «Das hilft dir bestimmt.» Ein
Nadelstich in den Arm …
Als sie aufwachte, waren die Schatten im Zimmer lang.
Das Zimmermädchen Nelly, das bei der Suche geholfen
hatte, tippte sie an die Schulter. «Tut mir leid, Sie zu
stören, Miss, aber ich bring Ihnen Tee und etwas zu essen.
Der Sheriff läßt ausrichten, daß er nicht länger warten
kann. Er muß mit Ihnen sprechen.»
7
Die Nachricht von Sammys Tod verbreitete sich wie ein
Lauffeuer und scheuchte die Gäste vorübergehend auf,
etwa wie ein Wolkenbruch eine Picknickgesellschaft. Es
wurden Fragen gestellt. Aus Neugier: «Was wollte sie nur
ausgerechnet dort?» Aus innerer Abwehr gegen den Tod:
«Wie alt war sie eigentlich?» Aus Gleichgültigkeit: «Ach
so, Sie meinen diese adrette ältere Person im Büro?»
Und dann wandte man sich schnell wieder der
erfreulicheren Beschäftigung mit sich selbst zu.
Schließlich bezahlte man teures Geld für den Aufenthalt
hier und wollte dafür auch seine Ruhe haben.
Schwierigkeiten hatte man wahrhaftig übergenug,
häusliche wie berufliche.
Ted war nachmittags zur Massage gegangen, von der er
sich eine
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