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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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überhaupt nicht gewußt, welche Seite ich aufgeschlagen und was ich vorgetragen hatte. Aber nun verstand ich, was ich rezitierte. Bei den Seiten, die mir gefielen,hatte ich ein Stückchen Papier eingelegt. Ich schlug sie auf und rezitierte. Mein Vater sagte: »Bahbah, wunderbar, hörst du, Liebchen. Wunderbar.«
    Meine Mutter lachte mit den Augen.
    Mein Herz, vergiß keinen Augenblick Wonne und Trunkenheit,
    geh fort erst dann, wenn von Sein und Nichtsein du befreit.
    Dem widme dich, den du siehst erfüllt von Leben,
    Mehr Liebe als dir selbst dem Anbetungswürdgen sollst geben .
    Dann pflegte er zu sagen: »Lies den ›Geliebten‹ vor. Die Hauptsache ist der ›Geliebte‹.«
    Dem Ankläger verrat nicht der Liebe und Trunkenheit Geheimnis,
    auf daß er ahnungslos sterbe, im Schmerz der Eigenliebe.
    Erwähle die Liebe, denn der Welt Werke werden vergehn,
    des Vergänglichen Bild verschwinden aus der Werkstatt des Seins.
    Wie schön sagte die Geliebte des Nachts, im Kreis der Magier:
    Was kümmern dich die Ungläubigen, wenn du nicht verehrst die Götzen.
    Was es nicht alles an Vorbereitungen für das Baby gab. Was für Gewänder! Alle warteten. Mein Vater sagte fortwährend: »Liebchen, steig nicht so oft die Treppen auf und ab.«
    Meine Tante, jene, die Chodjasteh für ihren Sohn vorgesehen hatte, sagte andauernd: »Liebchen, daß du ja bloß nichts Schweres hebst!«
    Meine Amme sagte andauernd: »Chanum Djan, bücken Sie sich doch nicht so oft.«
    Nozhat, die als ältestes Kind bei Vater wie Mutter sehr viel Respekt genoß, sagte fortwährend: »Chanum Djan, sagen Sie mir Bescheid, sobald die Schmerzen beginnen?«
    »Angenommen, es wird Mitternacht.«
    »Das ist doch gleich. Wann immer sie beginnen, müssen Sie mir Bescheid geben.«
    Meine Mutter sagte fortwährend: »Gott behüte. Ich würde vor Scham vor Nassir Chan im Boden versinken. In diesem Alter…«
    Wenn meine Schwester weiter drängte, antwortete sie: »Schon gut, schon gut, ich werde dir Bescheid sagen.« Und Nozhat wußte,daß meine Mutter es nicht tun würde. Sie schämte sich vor ihrem Schwiegersohn.
    Es war schon ein, zwei Stunden nach Mittag, als bei meiner Mutter die Wehen einsetzten. Unverzüglich schickte man die Droschke nach der Hebamme. Meine jüngere Schwester Chodjasteh und ich liefen, verwirrt und beunruhigt durch das Stöhnen meiner Mutter, in den Hof, um die Hebamme zu sehen, eine hübsche und reinliche Frau von kleinem Wuchs. Sie ging in das Zimmer meiner Mutter. Chodjasteh rief alle fünf Minuten durch die Tür hindurch: »Hat meine Chanum Djan entbunden?«
    Nach einer Weile steckte die Hebamme den Kopf durch die Tür: »Ihr steht hier umsonst herum. Vorläufig tut sich nichts.«
    Man brachte heißes Wasser und feine Tücher. Die Kutsche fuhr weg, um die Tante mütterlicherseits zu holen. Hadj Ali lief humpelnd davon, um die Tante väterlicherseits zu benachrichtigen. Das war meiner Mutter überhaupt nicht recht. Falls das vierte Kind ebenfalls ein Mädchen sein sollte, wünschte sie ihre Anwesenheit nicht, doch Agha Djan hatte es so angeordnet. Agha Djan lief ungeduldig auf und ab. Setzte sich in das Nebenzimmer. Stand auf und ging von dort in das Fünftüren-Zimmer. Wanderte erneut umher. Verlangte eine Wasserpfeife und rauchte sie nicht, als man sie ihm brachte. Es herrschte ein seltsamer Wirrwarr, der vom Jammern meiner Mutter dirigiert wurde.
    Niemand dachte an mich oder an Chodjasteh. Es herrschte das Chaos, und wir waren uns selbst überlassen. Ich war beunruhigt von den Schmerzen meiner Mutter und verwirrt durch meine Gefühle. Zwei Regungen stritten in mir. Was sollte ich tun? Ich fühlte mich schuldig. Meine Mutter krümmt sich vor Schmerzen, und ich suche nach einem Vorwand, das Haus zu verlassen. Um ihn zu sehen… Für einen Moment, einen Augenblick, einen Gruß.
    Vorsichtig ging ich ans Ende des Gartens in die Nähe der Küche. Dort standen die Levkojen in voller Blüte. Ich pflückte einen Blütenzweig und kehrte ins Zimmer zurück. Nahm meinen Tchador und rief zweimal: »Liebe Amme«.
    Dort war sie nicht. Ich suchte sie: »Liebe Amme!«
    Sie trat aus der Vorratskammer: »Hab keine Angst, es ist noch nicht so weit.«
    »Ich weiß, daß es noch zu früh ist. Ich gehe gerade zum Trinkwasserhäuschen.«
    Erst in dem Augenblick bemerkte sie, daß ich einen Tchador trug.
    »Wohin gehst du denn, mein Kind. Ganz allein?«
    Sie war zu aufgeregt, um mir zu folgen oder mißtrauisch zu werden.
    »Ich komme gleich zurück. Ich

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