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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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Blütenzweig erneut in die Hand und roch daran. Scharfsinnig bemerkte er: »Die Levkoje! Wie vom Himmel ist sie mir in den Schoß gefallen.«
    So ein Bastard! Er machte zweideutige Bemerkungen. Erneut legte er den Zweig sanft und sorgfältig an seinen Platz zurück und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch in der Ladenmitte. Wieder hatte er die Ärmel bis zum Ellenbogen hochgerollt, und erneut starrte ich auf seine Muskeln. Wieder erschien das schelmische Grinsen um seinen Mund. Seine Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Wild, frei und unordentlich. »Sind Sie nicht irgendwem versprochen?« fragte er.
    Lauf weg, sagte ich mir. Lauf weg, laß nicht zu, daß er noch dreister wird. Dieser Habenichts. Was ging das diesen Schreinerlehrling an? Laß nicht zu, daß er über die Stränge schlägt. Warum wurde ich nicht wütend? Warum stand ich still da? Ich mußte ihm ins Gesicht spucken. Ich mußte Firuz Chan und Hadj Ali zu ihm schicken, damit sie ihn grün und blau prügelten. Ich öffnete den Mund, um zu sagen, das geht dich überhaupt nichts an, doch ich hörte meine Stimme sagen: »Sie wollten mich, aber ich wollte nicht.«
    Wieder lachte er. Wieder sah ich seine Zähne. Er fragte: »Weshalb? Sind Sie etwa geizig? Mögen Sie nicht, daß wir einmal Hochzeitskuchen satt zu essen bekommen?«
    »Nein. Ach würden Sie doch meine Trauerspeise essen.«
    »Warum?«
    Ich starrte in seine Augen wie ein Kaninchen im Bann einer Schlange. Wer von uns war die Schlange? Ich weiß es nicht, wir warenbeide gefangen und Spielball der Natur. Er senkte den Kopf und umklammerte mit der Faust ruhig den Griff der Säge. Er hatte begriffen, was er nicht hätte erfahren dürfen. Ich wandte mich um und machte mich langsam auf den Weg nach Hause.
    Schließlich schliefen meine Schwester und ich, ohne Matratze und Bettdecke, in der Vorratskammer ein, die durch eine Tür von dem Raum getrennt war, in dem meine Mutter entbinden sollte. Plötzlich schüttelte uns jemand heftig. Wer konnte denn zu dieser Nachtzeit so schallend lachen? »Wacht auf, Kinder, wacht auf!«
    »Was ist den passiert, Amme?«
    Meine Schwester lag auf dem Boden und rieb sich noch die Augen, als ich mich bereits aufgesetzt hatte.
    »Eure Mutter hat entbunden. Einen Jungen!« Die Amme strahlte bis über beide Ohren. »Sieh doch, was mir euer Agha Djan als Geschenk für die gute Nachricht gegeben hat.«
    Ich sprang auf und betrat mit meiner Schwester das Zimmer meiner Mutter. Wir standen schüchtern an beiden Seiten der Tür. Unsere Mutter hatte sich kraftlos in dem sauberen Bettzeug mit weißem besticktem Laken, Kopfkissen und Satinsteppdecke ausgestreckt.
    Trotz der Steppdecke sagte sie lächelnd: »Amme, mir ist kalt, bring mir noch eine Decke.«
    Die Amme lief in die Vorratskammer und brachte eine Satindecke.
    »Ach…, nein,… die ist doch rosa. Bring mir die blaue.«
    Die Amme rannte lachend davon und brachte die blaue Satindecke. Mit Erlaubnis der Hebamme näherten wir uns unserer Mutter, um ihr die Hand zu küssen. Meine Mutter sagte: »Nein, meine Kinder, nicht die Hand, sondern hier«, und deutete auf ihre Wange. »Wißt ihr, daß es ein Junge ist? Nun habt ihr einen weiteren Beschützer.«
    Welch Menschenkenntnis die Frauen von damals doch besaßen. Wie klug meine Mutter doch war. Mit diesem einen Satz war alles Entscheidende gesagt worden. Der Neid, der sich in unseren Herzen einzunisten drohte, war durch diesen einen Satz einem Gefühl von Frieden und Sicherheit für die Zukunft gewichen.
    Mein Vater rief: »Mahbub Djan, willst du mir nicht aus Hafis vorlesen?«
    »Zu so später Stunde, Agha Djan?«
    »Die ist genau richtig. Wann, wenn nicht jetzt?«
    »Ich komme, Agha Djan, ich komme sofort.«
    Meine Mutter lächelte vor lauter Glück und Müdigkeit und bemerkte charmant: »Euer Vater hat ja auch sonst nichts zu tun«, und schlief ein.
    Frohe Botschaft, denn gekommen ist ein erlösender Hauch,
    liebliche Atemzüge, die Ankunft des Menschen verkündend.
    Ich wünschte mir etwas und rezitierte. Mein Vater bezog es auf sich, schließlich war sein Wunsch in Erfüllung gegangen.
    Gott allein wußte, was in unserem Haus los war – wie viele Goldmünzen und Besucher es gab, wieviel Gold und Schmuck als Geburtsgeschenke gebracht, wie viele Noql verteilt und Rautenkörner angezündet wurden. Es schien, als feierte der Frühling ebenfalls. Meine Mutter hatte sich im Fünftüren-Zimmer in ihre prächtige Bettstelle gelegt, und die Damen kamen sie in Grüppchen

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