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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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besuchen. Mein Bruder lag fest eingewickelt in einer reich verzierten Wiege neben ihr. Vater wich nicht von ihrer Seite. Ich las ihm so viel aus Hafis vor, daß ich müde wurde.
    »Agha Djan, Ihr Wunsch ist doch in Erfüllung gegangen, nun ist es genug der Weissagungen.«
    »Ich genieße Hafis’ Gedichte aus ganzem Herzen.«
    »Dann lesen Sie sie doch selbst.«
    »Wenn du sie rezitierst, genieße ich sie mehr.«
    Mein Vater liebte Poesie und Literatur. Eines seiner Lieblingsbücher war Nizamis Leili und Madjnun . Ein, zwei Abende in der Woche las er Nizami. Damals war es nicht üblich, daß Väter ihre Freude und Zuneigung offen zeigten, mein Vater jedoch scheute sich nicht.
    Mehrmals täglich wurden Rautenkörner angezündet. Im Anrichteraum neben dem Fünftüren-Zimmer wurde eine Wasserpfeife nach der anderen vorbereitet. Man brachte Tee und Kaffee, Kuchen und Naschwerk. Sherbet für alle und Behlimu-Saft, Bereshtuk und kräftigende Speisen für meine Mutter.
    In der Küche am Ende des Hofes wurde Hackfleisch-Choresh gekocht. Mein Vater hatte ein Gelübde abgelegt, zum Andenken anseine Eltern jährlich einmal Hackfleisch-Choresh und Safranreis kochen und als Almosen verteilen zu lassen. In jenem Jahr veranstaltete er aus Freude über die Geburt seines Sohnes eine zweite Speisung. Zwei Tage lang hatte sich die Menge vor der kleinen Tür, die am Ende des Hofes auf die Gasse führte, in zwei Reihen angestellt. Sie brachten ihre Schüssel Hadj Ali, und der gab sie Dadde Chanum, die Reis auffüllte, eine Kelle gut gewürztes Choresh darüber goß und sie mit einem halben Stück Fladenbrot Hadj Ali reichte, der sie an den Besitzer zurückgab. Vor der Tür war es unruhig, sie stritten sich, wollten einander übervorteilen und sich erneut anstellen. Es herrschte ein unbeschreiblicher Tumult. Meine Schwester Chodjasteh hatte sich zum Zuschauen hingestellt.
    »Mahbub, komm, gehen wir zuschauen.«
    »Ich komme nicht. Geh du.«
    »Warum, es ist wirklich sehenswert.«
    »Ich hab keine Lust. Ich will Kerzen anzünden gehen.«
    »Pah! Wie oft muß man denn Kerzen anzünden? Das ist das dritte Mal, daß du für Chanum Djan Kerzen anzündest.«
    »Das geht dich nichts an. Es ist ja nicht für Chanum Djans, sondern für Brüderchens Gesundheit… Außerdem ist es erst das zweite Mal.«
    »Was geht mich das an! Tu, was du willst.«
    Sie lief rasch ans Hofende. Ich ging. Es war gegen Mittag, und ich mußte rasch zurück sein. Ich wußte nicht, unter welchem Vorwand ich in der Nähe des Ladens stehenbleiben sollte. Sobald ich in die Gasse einbog, fing mein Herz so rasend zu klopfen an, daß mein ganzer Körper zitterte. Er stand vor dem Laden. Ich blieb ebenfalls einen Augenblick stehen. Was würde passieren, wenn er mir den Weg versperrte? Ich würde mein Ansehen im Viertel verlieren. Aber er tat es nicht. Sobald er mich erblickte, kehrte er um und ging in den Laden zurück. Ich sah, wie etwas aus seiner Hand fiel. So behutsam, daß nur ich es sehen konnte. Ich glaubte, der ganze Basar habe sich in ein Auge verwandelt und sehe zu. Es war ein Stück weißes Papier. Langsam näherte ich mich und setzte im Gehen meinen rechten Fuß darauf. Es schien, als züngelte eine Flamme von der Fußsohle bis in mein Herz. Ich trug eine Münze in der Hand. Ich ließ sie fallen und bückte mich rasch unter dem Vorwand, sie aufheben zu wollen. Zusammen mit der Münze hob ich das Papier auf.Meine Augen konnten nichts mehr sehen. Nichts außer jenen erträumten Augen, die auf mich fixiert waren und stumm schrien. Was hast du aufgehoben? Was hast du da aufgehoben? Als ich nach Hause zurückkehrte, wagte ich nicht, jemandem in die Augen zu schauen. Wie turbulent unser Leben damals war! Zu Hause hatte meine Mutter einen Sohn geboren, draußen hatte sich Iran in die Arme Reza Chans geworfen, und ich sehnte mich nach einem Schreinerlehrling. Iran war sehr viel früher erfolgreich gewesen, sehr viel früher und leichter. Als würde die ganze Welt durcheinandergewirbelt.
    Der sechste Abend, das Beschneidungsfest, der erste Besuch des Hammams nach der Geburt, all das war mit beträchtlichem Aufwand und Trubel verbunden. An den Abenden, an denen dem Neugeborenen der Gebetsruf ins Ohr gesungen wurde, kam der Mullah. Nach der Bewirtung mit Kuchen und Sherbet überreichte ihm mein Vater feierlich und unter Beachtung aller Formalitäten das eingewickelte Taufkind. Ins rechte Ohr wurde ihm der Aufruf zum Gebet gesungen und in das linke die Schlußformel. Sein

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