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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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von Verwandten. Zumal wenn meine Mutter mich allein zu Hause zu lassen beabsichtigte, so daß naturgemäß Dadde Chanum für meine Überwachung verantwortlich war.
    Vor sich hin murmelnd warf mir Dadde Chanum einen Blick zu und sagte dann, »Gut…, dann… dann soll ich wirklich ausgehen?«
    Ungeduldig erwiderte meine Mutter, »Nun geh schon, was redestdu soviel herum? Aber daß du mir ja vor Sonnenuntergang zurückkehrst. Wir haben tausend Sachen zu erledigen. Vom gestrigen Abend ist noch Essen übrig. Mahbube Chanum wird dir einen Topf füllen. Nimm ihn deiner Schwester mit.«
    Meine Mutter hatte meinen Namen erwähnt, sollte das etwa Versöhnung bedeuten? Hatte sie den Waffenstillstand erklärt? Ich konnte es nicht feststellen, da sie durch die Tür trat und entschwand. Was jedoch Dadde Chanum betraf, kaum zu glauben, wieviel Umstände diese Frau machte. Als wäre es eine Ewigkeit her, seit sie ihre Schwester zum letzten Mal besucht hatte! Ich ging in die Küche und gab acht, daß Hadj Ali einen Topf mit Essen für ihre Schwester füllte. Für Hadj Ali und mich blieb soviel übrig, daß er nicht zu kochen brauchte. Dennoch widerstrebte es ihm, den Topf zu füllen. Ich mußte mich mit ihm streiten.
    »Hadj Ali, es ist doch soviel Essen da, weshalb sträubst du dich ihn zu füllen?«
    »Schließlich muß alles seine Ordnung haben. Sonst wird diese Dadde Chanum frech.«
    Bei jeder anderen Gelegenheit hätte ich gelacht, an diesem Tag stampfte ich jedoch ungeduldig mit dem Fuß auf, »Nun beeil dich schon! Füllst du den Topf oder soll ich ihn selber füllen?«
    Murrend machte Hadj Ali den Topf voll, »Bitte schön, meinem Vater gehört es ja nicht. Ich fülle ein, soviel Sie wollen. Sollen sie essen, bis sie platzen.«
    Hadj Alis Zimmer befand sich im Biruni nahe der Hoftür. Humpelnd kehrte er dorthin zurück. Seine Augen waren vom allmorgendlichen und -abendlichen Anpusten des Feuers unter den Töpfen stets gerötet und tränten. Er ging gebückt und stemmte beim Gehen eine Hand in die Hüfte. Er hinkte. Es war nicht zu erraten, ob Gelenkschmerzen oder ein angeborenes Gebrechen der Grund dafür war. Obwohl er in der Küche jederzeit Gelegenheit hatte, etwas zu stibitzen, und zusätzlich zu seiner Essensration stets die Kochtöpfe mit Appetit leerte, blieb er hager und knochig und genoß, obwohl alt und gebrechlich, Achtung und Zuneigung meiner Eltern. Nicht nur aufgrund seiner unvergleichlichen Kochkunst, sondern auch wegen seiner blinden Treue.
    Ich wußte, daß er die Gelegenheit nutzen und schlafen würde. Wie kam es, daß mich meine Mutter allein zu Hause ließ? Hatte sieetwa Mitleid mit mir? War die Zeit meiner Gefangenschaft beendet? Dachten sie etwa, daß ich nach diesen ungefähr dreiundzwanzig Tagen entmutigt und zur Besinnung gekommen wäre? Oder hatte sich, da Agha Djan nicht in der Stadt war, die Haft gelockert? Aus welchem Anlaß auch immer! Ich werde jene Locken besuchen gehen, jene Hände, die Ader, die an jenem langgestreckten Hals unter der dunklen Haut pochte. Zu jenem Holzgeruch, dem Geräusch der Säge und dem verräucherten Paradies…
    Ich legte den Tchador an, zog den Gesichtsschleier über und machte mich auf den Weg. Hadj Ali schlief in seinem Zimmer. Ich entriegelte die Tür und war frei. Während der ganzen Zeit hatte ich das Haus nur einmal verlassen, zu einem Besuch meiner Schwester, in der väterlichen Kutsche und begleitet von Dadde Chanum. Außerdem linksherum durch die Gasse. Jetzt schien mir, als wäre ich dieser Gasse, diesem Durchgang und diesem Lädchen ein Jahrhundert fern geblieben. Ich sah, daß alles immer noch genauso hell, fröhlich und lebendig war. Die Menschen kamen und gingen wie früher. Nichts hatte sich verändert. Nur ich, die leicht war und schwebte. Ich wollte laut lachen. Ich schlug den Gesichtsschleier hoch, um ihn besser zu sehen. Damit er mich besser sehen konnte. Ach, könnte ich doch nur wie eine Bettlerin neben der Tür seines Ladens hocken und jeden Tag sein Kommen und Gehen betrachten. Sein Atemholen betrachten.
    Ich näherte mich der Abbiegung der dritten Seitengasse. Plötzlich schoß mir Blut siedendheiß ins Herz. Mein Mut sank. Meine Arme und Beine wurden schwer. Ich traute mich nicht, an der Ecke abzubiegen, um ihn zu sehen. Ich blieb stehen. Doch konnte ich auch nicht stehenbleiben.
    Ich atmete durch und bog ab. Plötzlich wurde mir kalt. Ich fror und blieb wie angewurzelt stehen. Die Ladentür war geschlossen. Wie eine Welle war ich, die auf

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