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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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einen Felsen geprallt ist. Wie war das möglich? Zu dieser Tageszeit? Zwei große Bretter waren x-förmig über die geschlossene Tür genagelt. Also war der Laden nicht geschlossen, sondern aufgegeben worden. Für lange Zeit, auf ewig. Sprachlos blickte ich nach links und nach rechts. Niemand war da, der mir sagen konnte, was geschehen war. Wen sollte ich fragen? Wohin sollte ich gehen? Erneut starrte ich die Tür an. Als betrachtete ich die Leiche eines Vertrauten. Unwillkürlich machte ich kehrtund lief nach Hause. Ich hielt den Kopf gesenkt. Als hätte mein Hals keine Knochen. Nicht umsonst hatte mir meine Mutter die Fesseln abgenommen. Nicht umsonst sagte sie ›Mahbube‹. Nicht umsonst lachte sie. Sie wollte, daß ich herkam und es mit eigenen Augen sah. Was auch immer geschehen war, mein Vater steckte dahinter. Hatten sie ihn verhaftet? Ermordet? Was war geschehen? Alles, was sie ihm antaten, taten sie meinem Herzen an. Ich verabscheute meinen Vater und das Lachen meiner Mutter. Je grausamer sie wurden, je mehr Steine sie mir in den Weg legten, desto ruheloser wurde ich. Laßt mich in Frieden! Überlaßt mich meinem Schicksal. O Herr, wie konnte ich ihn wiedersehen? Wo sollte ich ihn finden? Sie hatten ihn fortgescheucht, und er war gegangen. Ich ging nach Hause, doch meine Füße kamen nicht voran. Als hätte man mir Steine an die Unterschenkel gebunden. Ich war erschöpft, müde und lustlos – wie weit doch der Weg nach Hause war. Ich zog die Füße nach, stützte mich an den Wänden ab, atmete mühsam. Ich war gealtert. Weshalb war die Luft so trocken und glühend geworden? Weshalb hatte sich alles verändert? Weshalb hatte sich die Sonne verfinstert? Die Menschen waren mürrisch geworden. Das Leben war ernst und bitter geworden. Weshalb hatten es die Passanten eilig und waren so bedrückt? Weshalb ging von den Schatten auf den Wänden dieser Kummer aus? Ich erreichte das Haus. Die Platanen standen um den Hof Spalier. Das Wasser des Hofbeckens war ungekräuselt. Ich ging in das Houzchaneh . Auch dort war die Luft warm. Ich warf mich auf das Sitzkissen. Keine Träne trat in meine Augen, es gab nur Zorn und Empörung. Über meinen Vater, über die Hinterhältigkeit meiner Mutter, mit der sie mir die Realität vor Augen geführt hatte. Über Mansur. Sollten sie doch sitzen und warten, bis ich seine Frau würde. Jetzt, da es so ist, werde ich zum letzten Mittel greifen.
    Hadj Ali näherte sich dem Hauptgebäude, stellte das Tablett mit meiner Mahlzeit auf die Stufen und entfernte sich humpelnd. Seit Mittag waren zwei Stunden vergangen. Kraftlos erhob ich mich und legte den Tchador wieder an. Vielleicht war er inzwischen an die Arbeit zurückgekehrt. Ich gehe nachsehen, ob er gekommen ist oder nicht. Obwohl ich angesichts der mit Brettern zugenagelten Tür begriffen hatte, was ich hatte begreifen müssen. Dennoch würde ich hingehen. Gehen, um seine Abwesenheit zu sehen. Die verschlosseneTür anzusehen und mir dahinter seine Gestalt vorzustellen. Kraft- und lustlos machte ich mich auf den Weg, passierte die beiden Seitengassen und erreichte die Abzweigung der dritten. Die Tür war im selben Zustand wie am Morgen. Willenlos schritt ich durch die Hallen des kleinen Basars. Es fiel mir schwer, den Tchador auf dem Kopf zu halten. Konfus und fassungslos ging ich umher und wußte nicht wohin. Was wollte ich eigentlich? Ich blieb neben dem Trinkwasserhäuschen stehen, zündete jedoch keine Kerze an. Zu nichts hatte ich Lust. Ich war am Ersticken. Mutter und Vater hatten recht, ich hatte mich in Leili verwandelt und irrte wie Madjnun kopflos umher. Ich war durcheinander. Ich mußte nach Hause zurück. Wozu sollte ich hier herumstreunen? Der Vogel war ausgeflogen. Ich mußte in meinen Käfig zurück und an meinem Kummer eingehen.
    »O, Chanum, helfen Sie mir, um Gottes willen. Ich bin Waise…«
    Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ein zehn-, zwölfjähriger Betteljunge mit offenem Hemdkragen und schmutzigem, altem Umhang lief mir barfuß nach. Wenn der Laden offen und ich guter Laune gewesen wäre, hätte ich diesem zerlumpten Bettler wegen des Wiedersehens gewiß ordentlich Geld gegeben. Doch jetzt war ich über seine Hartnäckigkeit erbost. Ich zürnte Gott und der Welt. Bittend ergriff er den Zipfel meines Schleiers, »Ich bin Waise, Chanum. Dem Leben Ihrer Kinder zuliebe, helfen Sie mir Armem.«
    Mein Tchador würde schmutzig werden. Zornig stieß ich ihn fort, »Verzieh dich!« Er blieb etwas stehen und lief mir

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