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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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Schließlich gab die Amme das Kind Chodjasteh und sagte, »Nimm mal.« Sie umklammerte meine Mutter von hinten und löste sie vonmir. »Sie haben mein Kind umgebracht, Chanum. Lassen Sie doch los, es reicht.«
    Der Tchador war meiner Mutter vom Kopf geglitten. Sie setzte sich auf eine Ecke der Truhe und lehnte sich ans Bettzeug. Die Knie hatte sie angewinkelt und gespreizt. Die Ellbogen auf die Knie gestützt, hatte sie den Kopf in die Hände gelegt und heulte mit lauter Stimme. Ich sah nur ihre kleinen, zarten Handrücken und ihr Haar. Ich stöhnte und rieb mir die Arme. Meine Mutter schluchzte, und Manuchehr kreischte verstört. Chodjasteh streichelte ihn und trug ihn aus dem Zimmer.
    Die Amme fragte entgeistert, »Was ist denn bloß geschehen, Chanum Djan? Was machen Sie denn da?«
    »Was geschehen ist? Sie hat ein Auge auf jemanden geworfen. Sie hat sich verliebt.«
    Ich wußte nicht, ob die Enthüllung meiner Mutter dadurch bedingt war, daß sie ein Geheimnis, das sie nicht einmal ihrer Schwester mitzuteilen vermochte, nicht mehr für sich behalten konnte, oder ob es aus taktischen Gründen geschah. Hatte das Personal etwa Lunte gerochen? Hatten sie die Peitschenhiebe für Rahim den Schreiner und die Schließung seines Ladens mit meiner häuslichen Gefangenschaft in Verbindung gebracht? Und falls ein Getuschel im Gange war, dann war die Amme mit Dadde Chanum und Firuz Chan gemeinsam daran beteiligt. Doch von nun an würde die Amme, die das Privileg besaß, von meiner Mutter ins Vertrauen gezogen worden zu sein, zur Demonstration ihrer Überlegenheit und als Ausdruck ihrer Treue gegenüber meiner Mutter, sich den Dienstboten entgegenstellen, ihnen den Mund verbieten und die Verbreitung jeglichen Gerüchts verhindern.
    Meine Mutter, Inbegriff einer Frau mit Persönlichkeit, Selbstbeherrschung und Standhaftigkeit, eine Frau, die das Beispiel einer vollkommenen, besonnenen und angesehenen Dame war, eine Frau, die Zorn und Wut nur mit einem kleinen Stirnrunzeln, dem Schürzen der Lippen oder mit der Wendung des Halses und einem starren Blick zum Ausdruck brachte und deren Freude wir nur an ihrem graziösen Lächeln erraten konnten, saß jetzt in einem Winkel der Abstellkammer und weinte bitterlich, und die Amme tröstete sie. Meine Mutter sagte, »Halsstarrig beharrt sie darauf, ›Ich will…‹ Wie kann man nur so dickköpfig sein?«
    Sie sprang auf und wollte erneut über mich herfallen. Die Amme kam ihr zuvor und schrie mich an, »Nun geh schon endlich, verschwinde. Willst du, daß sie dich umbringt?«
    Ich lief, so schnell ich konnte. Mit dem Tchador in der Hand sprang ich aus der Abstellkammer. Wie kam es, daß ich nicht selbst daran gedacht hatte? Ich weiß es nicht. Ich hörte das Geflüster der Amme und meiner Mutter. In einem Winkel meines Zimmers hatte ich ein Stück Kordel versteckt. Ich nahm es. Eilends fand ich ein Stück Papier und schrieb darauf:
    Ich habe den Cousin abgelehnt. Ich habe ihm gesagt, ich begehre
    ihn nicht. Ich habe ihm gesagt, daß ich nur dich begehre, Rahim.
    Nur dich.
    Ich rannte zum Hof, als Chodjasteh mit dem Kind auf dem Arm erschien, »Wohin? Willst du das Haus verlassen?«
    »Nein, Chanum Djan will mich immer noch schlagen. Ich gehe nach hinten in den Hof, bis sie auf die Stimme der Vernunft hört.«
    Chodjasteh sagte tadelnd, »Du hast Nerven. Du bist es, die Vernunft annehmen muß.«
    Ich warf mir den Tchador über und rannte ans Ende des Hofs des Andaruni unter die Bäume. Ich fand einen kleinen Stein. Wickelte das Papier darum und band es mit der Kordel fest. Ich warf einen Blick auf das Gebäude. Unwahrscheinlich, daß sie mich sehen konnten. Die Mauer war nicht besonders hoch. Ich warf den Stein über die Mauer. Ich vergaß die schmerzenden Glieder und kehrte langsam zu meinem Zimmer zurück.
    In dieser Nacht kam die Frau Amme an mein Lager aufs Dach und sprach eine ganze Weile mit mir. Ich, müde von der holprigen Fahrt von Shemiran in die Stadt und geplagt von meinen Arm- und Beinschmerzen, vergoß Tränen, fügte mich jedoch nicht. Ich beharrte dickköpfig.
    Die Tante mütterlicherseits ließ nicht locker. In einem fort sandte sie Botschaften und verlangte nach Chodjasteh. Chodjasteh sagte weder ja noch nein. Sie war über den drohenden Umzug ans Kaspische Meer und das Leben fern der Familie bekümmert, jedoch keine Rebellin wie ich. Sie war gerade eben elf Jahre alt geworden. Ein Kind noch, doch hübsch. Sie besaß schönes Haar und eine zarte Haut. Ihre Figur war

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