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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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mehr, was tun. Meine ältere Schwester ging fort, kam zurück und richtete aus, »Mahbub, komm, Agha Djan hat etwas mit dir zu erledigen.«
    Nur mit mir. Als existierte Rahim gar nicht. Ich stand auf, betrat das Fünftüren-Zimmer und schloß die Tür hinter mir. Mein Vater lag auf einem Sessel. Das Haupt hatte er auf die Rücklehne des Sessels gelegt und die Füße mitten ins Zimmer gestreckt. Sein rechter Fußknöchel lag über dem linken. Nicht nur der Knopf seines Jakketts, sondern auch die Knöpfe von Hemd und Weste standen bis zur Mitte offen. Als litte er unter Atemnot. Noch nie hatte ich ihn dermaßen durcheinander und unordentlich bekleidet gesehen. Die Arme hatte er erschöpft auf die Sessellehnen gelegt, und seine Hände hingen von den Lehnen herab. Sein Gesicht war blaß, und er starrte an die Zimmerdecke. Man hatte ihn eines Juwels beraubt.Meine Mutter saß auf der Kante des Fensterbretts und betrachtete die farbigen Scheiben des Schiebefensters. Auch sie schien bar jeder Kraft. Sie hatte nicht einmal den Tchador angelegt. In einem geblümten Kleid saß sie da und hatte die Hände ermattet auf die Knie gelegt. Als sie mich sah, erhob sie sich und kam auf mich zu. Sie zog einen verhältnismäßig großen Diamantring heraus und legte ihn mir in die Hand. Sie sagte nicht, ›Herzlichen Glückwunsch‹, sondern, »Behalt das als Andenken von mir«, und verließ durch die andere Tür weinend das Zimmer.
    Mein Vater schwieg eine Weile. Ich wußte nicht, was tun. Ich stand nach wie vor mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen da. Meine Schwester war bei mir. Mein Vater sah an die Zimmerdecke und sagte leise und matt, »Hatte ich dir gesagt, daß ich dir monatlich dreißig Tuman zur Unterstützung schicken werde?«
    Ich wollte sagen, ›Wann hatten Sie mit mir gesprochen?‹, doch erwiderte ich lediglich, »Nein, Agha Djan.«
    »Ich werde das Geld der Frau Amme geben, daß sie es dir zu jedem Monatsersten bringt.«
    Mühsam hob er die rechte Hand und steckte sie in die Westentasche. Er zog ein prächtiges goldenes Kollier heraus und streckte es mir hin, »Hier, nimm. Das ist für dich.« Respektvoll trat ich ein paar Schritte vor und nahm das Kollier. »Leg es an.«
    Mit Hilfe meiner Schwester legte ich das Kollier an. Mein Vater warf einen Blick darauf und auf mein junges, geschminktes Gesicht. Wie ein Kranker verzog er schmerzverzerrt das Gesicht. Erneut legte er seinen Kopf auf die Rückenlehne, und seine Hände sanken von den Sessellehnen herab. Für Rahim gab es kein Geschenk. Nicht einmal sein Name wurde erwähnt.
    »Nun gut, geh in Frieden.«
    Ich faßte mir ein Herz und sagte mühsam, »Agha Djan, sprechen Sie kein Gebet für mich?«
    In unserer Familie war es Sitte, daß die Väter ihren Kindern in der Hochzeitsnacht beim Abschied ihren Segen mitgaben und ihnen Glück wünschten. Ich hatte die Segenswünsche meines Vaters für Nozhat erlebt, die alle, sogar das Brautpaar zu Tränen gerührt hatten. Damals glaubte man noch an so etwas. Damals wirkten die Gebete.
    Ein bitteres Lächeln erschien auf den Lippen meines Vaters. Schweigen senkte sich über uns. Es schien, als dächte er nach, wasfür einen Segen er spenden sollte. Mein Vater hob, so wie er dasaß, kraftlos zwei Finger der rechten Hand. Sein Haupt lag nach wie vor auf der Rückenlehne. Er sagte, »Ich gebe dir zwei Wünsche mit. Einen guten und einen bösen.«
    In ängstlicher Erwartung stand ich da. Meine Schwester streckte unwillkürlich beklommen und beschwörend die Hände aus und sagte, »Oh, Agha Djan…«
    Ohne sie zu beachten, legte mein Vater eine lange Pause ein und sagte dann, »Mein Segenswunsch ist, daß dich der Herrgott nicht an diesen Mann fesselt.« Erneut herrschte Schweigen. Mein Vater seufzte auf, sein Brustkorb hob und senkte sich, und er fuhr fort, »Doch nun zu meiner Verwünschung. Meine Verwünschung lautet, daß du hundert Jahre leben sollst.« Ich erstarrte an Ort und Stelle. Meine Schwester und ich wechselten erstaunte Blicke. Was war das denn für eine Verwünschung? Das war doch gewissermaßen ebenfalls eine Art Segenswunsch! Mein Vater bemerkte, was sich in unseren Köpfen abspielte. Er sagte, »Insgeheim sagst du dir, das sei doch keine Verwünschung, sondern sogar sehr günstig. Ich jedoch bete dafür, daß du hundert Jahre lebst und jeden Tag sagst, ›Was für einen großen Fehler ich doch begangen habe‹, um anderen als mahnendes Beispiel zu dienen. Nun geh.«
    Ich hatte fast die Tür erreicht, als mein

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