Der Morgen der Trunkenheit
mit sich in die Tiefe reißen. Müde stand ich neben der Mauer, starrte auf das Ziegelpflaster und auf die Türen und Mauern des Hofs, die im Halbdunkel der nahenden Dämmerung fremd und traurig wirkten. Ich war ein Rehkitz, das sich allein in einer dürren und fremden Steppe verirrt hatte, hinter ihm stand ein Jäger, und vor ihm erstreckte sich ein rätselhaftes und unbekanntes Land. Ich war einsam und niedergeschlagen. Ich haderte mit Vater und Mutter und mit der ganzen Welt. Ich wünschte mir, Rahim wäre bei mir. Doch der lief hin und her und half der Amme. Das Haus, das auch ihm neu war, schien sich ihm in einem anderen Licht darzustellen. Er verließ das Zimmer und bemerkte mich, die ich immer noch in einem Winkel des Hofs gekrümmt an der Mauer lehnte. Er gesellte sich zu mir, stützte seine rechte Hand über meinem Kopf an die Mauer und bedeckte mich mit seinem Schatten. Zum ersten Mal sah ich sein wirres Haar und sein verschmitztes Grinsen aus dieser Nähe. Er fragte, »Weshalb stehst du hier? Bitte begeben Sie sich ins Zimmer. Beehren Sie uns heute nacht.« Er lächelte, seine kräftigen,weißen Zähne blitzten auf, und wieder wurde ich schwach. Als würde mir ein sanfter, klarer Strom alle Kümmernisse aus der Seele schwemmen. Wie Nebel im Sonnenschein lösten sie sich auf und verschwanden. Rahim hatte sich derart meiner Seele bemächtigt, daß mich ein Blick, ein Lächeln oder ein Wort von ihm überwältigte. Wenn es nötig sein sollte, würde ich noch einmal kämpfen. Noch einmal auf den Glanz prächtiger Hochzeitsfeste verzichten. Ich würde sogar in einer Hütte wohnen, wenn auch unter der Bedingung, daß dieser Mann mich beschirmen und seinen schützenden Schatten über mich breiten würde. Erst jetzt bemerkte ich, daß er mich um einen Kopf überragte. Obwohl die Amme das Speisetuch ausgebreitet und das Abendessen angerichtet hatte, war ich nicht mehr hungrig. Ich mochte nicht zu Abend essen. Ich wünschte mir nicht einmal mehr die Anwesenheit der Amme. Ich sehnte mich nur nach Einsamkeit und nach Rahim. Ich genoß seine Neckerei. Mittlerweile duftete er nicht mehr nach Holz, doch sein Haar war nach wie vor wirr, und seine Augen verbreiteten solch einen Glanz, daß sie von meinem Dasein Besitz ergriffen. Seine bloße Anwesenheit schenkte mir Frieden und besänftigte meine Qualen. Sie stimmte mich fröhlich, als hätte ich eine gute Nachricht erhalten.
Rahim fragte abermals, »Beehren Sie uns heute nacht?«
Ich lehnte meinen Kopf an die Mauer, schloß die Augen und sagte, »Heute nacht und jede Nacht.«
Er warf seinen Kopf zurück und lachte laut auf. Ich begehrte ihn immer mehr. Die Amme zündete die Lampen mit den tulpenförmigen Glasschirmen an, stellte sie in die Wandnischen der beiden Zimmer und rief uns zum Abendessen. Nach langer Zeit konnte ich mich endlich wieder satt essen. Ich wußte nicht, weshalb. Weil der Druck meiner Eltern von mir gewichen und ich aus dem Käfig befreit worden war, in dem ich unter Aufsicht gestanden hatte, und nun mein Leben selbst in die Hand nehmen konnte, oder deshalb, weil ich erreicht hatte, was ich begehrte? Ich fühlte mich frei wie ein Vogel. Gelöst, ohne Furcht und Bedenken. Beschwingt.
Die Amme erhob sich von ihrem Platz, und mir sank der Mut. Sie sagte, »Mahbub Djan, ich muß jetzt gehen. Du weißt doch, Manuchehr verlangt nach mir. Die Chanum hat gesagt, ich soll rasch zurückkehren und mich um ihn kümmern. Schließlich ist deine Chanum Djan sehr müde.«
Meine Mutter war müde? Hatte sie sich etwa um die Hochzeit ihrer Tochter bemüht? Was hatte sie getan? Welchen besonderen Dienst hatte sie mir erwiesen? Und nun hatte sie auch noch die Amme zurückbefohlen. Ausgerechnet in meiner Hochzeitsnacht. In einer Nacht, in der die Angehörigen der Braut bis zum Morgen in ihrem Haus blieben und sie nicht allein ließen. Nach Ansicht meiner Eltern war mein Ehemann Rahim jedoch nicht soviel wert. Nach ihrer Ansicht mußte er mich unter allen Umständen akzeptieren und mich auf Händen tragen. Selbst, wenn sich herausgestellt hätte, daß ich etwas ausgefressen hatte und bereits zwei Kinder besaß, hätte mich Rahim dankbar annehmen müssen. Mich, die ich etwas Besseres war. Also erübrigte sich auch die Anwesenheit der Amme.
Gekränkt erhob ich mich von meinem Platz und sagte, »Ich gehe mir die Hände waschen.«
Die Amme rannte die Stufen hinab und brachte mir in der Gießkanne Wasser vom Hahn. Das Beckenwasser war schmutzig und verschlammt. Sie wußte,
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