Der müde Bulle
drücken.
Nachdem ich das Dienstbuch in den dafür vorgesehenen Korb gelegt hatte, alberte ich noch mit ein paar jungen Nachtstreifengängern herum, die wissen wollten, wann ich im Sommer auf Nachtschicht umsteigen würde. Sie kannten meine Gewohnheiten bereits. Jeder kannte sie. Allerdings paßte es mir keineswegs, mich so auf meine Gewohnheiten festlegen zu lassen. Die erfolgreichsten Räuber und Einbrecher sind nämlich jene, die ab und zu ihre Methoden und Gewohnheiten ändern. Damit lassen sie einem keine Chance, sich schon vorher ausrechnen zu können, wo und wie sie das nächstemal zuschlagen werden. Das erinnerte mich an einen abgebrühten alten Streifenpolizisten namens Nails Grogan, der für Hill Street zuständig war.
Nails bekam es – das Ganze lag übrigens schon etwa fünfzehn Jahre zurück – eines Tages endgültig satt, sich ständig beim Appell von irgendeinem grünen Lieutenant dumm anquatschen zu lassen, weil wir angeblich nicht genügend Einbrecher schnappten. Zu dieser Auffassung war Wall – so hieß besagter Lieutenant – gekommen, weil sich auf der Karte unseres Reviers, und zwar vor allem in Grogans Bereich, immer so viele rote Nadeln befanden, die für nächtliche Einbrüche standen. Grogan sagte mir, er könnte sich nicht vorstellen, Wall hätte je eine Einbruchsmeldung in der Hand gehabt, und er wäre überhaupt zu blöd, um Scheiße von Bratensoße zu unterscheiden.
Schließlich fing Grogan damit an, vor dem Abendappell jedesmal ein paar von den roten Nadeln umzustecken. Er nahm immer einige von seinem Revier und plazierte sie irgendwo in der Eastside. Nach ein paar Wochen fing Wall dann auch tatsächlich an, Grogan beim Appell regelrecht als glorreiches Beispiel hinzustellen, da er sich so gut um die Einbruchsfälle in seinem Revier kümmerte. Statt dessen hackte der Lieutenant nun auf den Jungs herum, die für die Eastside zuständig waren. Ich war der einzige, der wußte, worauf dieser plötzliche Umschwung zurückzuführen war, und wir lachten uns immer ins Fäustchen, bis Grogan schließlich zu weit ging und der Eastside eine regelrechte Einbruchswelle verpaßte, so daß Lieutenant Wall beim Captain eine Sondereinheit anforderte, um etwas gegen dieses Überhandnehmen von Einbrüchen zu unternehmen. Der ganze Schwindel flog schließlich auf, als niemand auch nur ein einziges Protokoll für all die roten Nadeln finden konnte.
Wall wurde in das alte Lincoln Heights-Gefängnis versetzt, das sozusagen als Abstellgleis für die Polizei von Los Angeles fungiert. Dort ließ er sich dann ein paar Jahre später pensionieren. Nails Grogan konnte zwar nie etwas nachgewiesen werden, aber ich bin mir sicher, daß Wall wußte, wem er das alles zu verdanken gehabt hatte. Nails gehörte auch zu den Kollegen, die nicht mehr sehr alt wurden, nachdem sie aus dem Dienst ausgeschieden waren. Er hatte sich erschossen. Bei diesem Gedanken lief es mir eiskalt den Rücken hinunter, so daß ich mich schleunigst auf den Weg in den Umkleideraum machte, wo ich die Uniform ablegte und mein Fischgrätjackett, meine graue Hose und ein zitronengelbes Hemd ohne Krawatte anzog. In Los Angeles kommt man eigentlich fast überall auch ohne Krawatte aus.
Bevor ich ging, griff ich schnell noch nach dem Rasierapparat, um meinen Stoppeln zu Leibe zu rücken. Unter den Männern, die sich währenddessen noch im Umkleideraum aufhielten, war auch ein ehrgeiziger junger Bücherwurm namens Wilson, der wie gewöhnlich las, während er auf der Bank vor seinem Schließfach saß und in seine Zivilklamotten schlüpfte. Er besuchte jede Woche drei- oder viermal Abendvorlesungen in einem College und hatte immer ein Lehrbuch dabei. Man sah ihn kein einziges Mal im Aufenthaltsraum oder in der Cafeteria, ohne daß er etwas las. Ich war ja an sich auch eine Leseratte, aber bei dem Gedanken, lesen zu müssen, wurde mir fast übel.
»Was lesen Sie denn da?« fragte ich ihn.
»Ach, nur ein bißchen Strafrecht«, erwiderte Wilson, ein junger Kerl mit hoher Stirn und großen blauen Augen. Er war erst seit ein paar Monaten bei der Polizei und machte gerade seine Probezeit durch.
»Du arbeitest wohl schon auf den Sergeant hin?« hänselte ihn Hawk, ein frecher, stämmiger Kerl in Wilsons Alter, der zwei Jahre dabei war und zur Zeit die Phase durchlief, in der sie alle ganz heiß darauf sind, einen Streifen mehr an ihren Ärmel zu kriegen.
»Na ja, ich besuche eben ein paar Kurse.«
»Was haben Sie denn als Hauptfach?« wollte ich
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