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Der müde Bulle

Der müde Bulle

Titel: Der müde Bulle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Wambaugh
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Mutter war eine gebeugte, schmutzige Alte mit überdimensionalen Ohrringen, einer bunten Bluse und einem roten Faltenrock. Der Mann ging vor ihr her. Er war etwa in meinem Alter, zehn Zentimeter kleiner als sie und sehr dünn. Ein dunkles, unrasiertes Gesicht wandte sich mir zu, und ich erkannte ihn. Er trieb sich immer mit einer Zigeunerin in der Innenstadt herum und lockte dort den Leuten mit ein paar billigen Kartentricks das Geld aus der Tasche. Die Alte war vermutlich seine Frau, aber ich konnte mich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern. Drei Kinder folgten ihnen – ein ebenso schmutziges wie hübsches Mädchen im Teenie-Alter, ein abgerissener, etwa zehnjähriger Range und ein vierjähriges schwarzgelocktes Schnuckelchen, das die gleichen Kleider trug wie die Mutter.
    Ich fragte mich, womit sie wohl im Augenblick gerade ihr Geld verdienten, und versuchte, mir den Namen des Mannes ins Gedächtnis zurückzurufen, aber er fiel mir nicht ein. Nun wollte ich zumindest herausfinden, ob er sich noch an mich erinnern konnte. Obwohl ich bereits etwas spät dran war, hielt ich am Straßenrand.
    »He, einen Moment mal, bitte!« rief ich ihnen zu.
    »Was ist los?« fragte der Mann verdutzt. »Was gibt's, Herr Wachtmeister? Was wollen Sie von mir? Ich bin nur ein ganz einfacher Zigeuner. Sie kennen mich doch, Herr Wachtmeister, oder nicht? Ich habe doch schon mal mit Ihnen gesprochen. Wir waren nur einkaufen, Herr Wachtmeister. Nur einkaufen. Ich und meine Kinder und die Mutter meiner Kinder.«
    »Wo habt ihr denn eure Einkaufstüten?« wollte ich wissen. Von der Sonne geblendet, blinzelte er von der Beifahrerseite in meinen Wagen herein. Seine Familie stand wie am Schnürchen aufgereiht neben ihm und beobachtete mich.
    »Wir haben nichts gefunden, was uns gefallen hätte, Herr Wachtmeister. Und viel Geld haben wir ja auch nicht gerade. Da können wir nicht einfach das Nächstbeste kaufen.« Er redete mit Händen und Füßen und sämtlichen Muskeln und Fasern seines Körpers, und zwar vor allem mit dem Dutzend, die sein beredtes Gesicht bewegten, das zwischen Hoffnung, Verzweiflung und Ehrlichkeit schwankte. Oh, was war das für eine Ehrlichkeit …
    »Wie heißen Sie doch gleich?«
    »Marcos. Ben Marcos.«
    »Sind Sie mit George Adams verwandt?«
    »Natürlich. Es war mein Vetter, Gott sei seiner Seele gnädig.«
    Ich mußte laut loslachen, da so ziemlich jeder Zigeuner, mit dem ich während der letzten zwanzig Jahre gesprochen hatte, behauptete, er wäre mit dem verstorbenen Zigeuneranführer verwandt.
    »Ich kenne Sie doch von irgendwoher, oder nicht, Herr Wachtmeister?« fragte er mich lächelnd, da ich so herzhaft hatte lachen müssen. Ich wollte noch nicht weiterfahren, da es mir Spaß machte, seinem Zigeuner-Singsang zuzuhören und seine ungewaschenen, aber nichtsdestoweniger ausnehmend hübschen Kinder zu bewundern.
    Und ich fragte mich wieder einmal, ob ein Zigeuner wohl je die Wahrheit würde sagen können, nachdem ihm über Generationen hinweg immer und immer wieder eingeschärft worden war, nur seinen Stammesbrüdern gegenüber ehrlich zu sein. Andererseits bedauerte ich es auch, keinen Zugang zu diesen Menschen zu finden, da ich gern mehr über die Zigeuner gewußt hätte. Einen Zigeuner zum Freund zu gewinnen, war sicher eines der Dinge, die man am schwersten erreichen konnte. Und doch wollte ich das noch schaffen, bevor ich sterben mußte.
    Ich hatte einmal einen Stammesführer namens Frank Serna gekannt, der mich sogar einmal in sein Haus in Lincoln Heights zum Abendessen eingeladen hatte. Damals war seine halbe Verwandtschaft um die riesige Tafel versammelt gewesen, aber sie sprachen natürlich nicht über die Themen, über die sie sich normalerweise unterhalten hätten. Darüber konnte die etwas gequälte Heiterkeit, mit der sie mir begegneten, keineswegs hinwegtäuschen. Offensichtlich war es für diese Leute etwas höchst Ungewohntes, einen Außenseiter – und noch dazu einen Polizisten – in ihrer Mitte zu haben. Dennoch lud Frank mich ein zweitesmal ein, und ich bemühte mich auch darum, die Freundschaft und das Vertrauen dieses Mannes und seiner Familie zu gewinnen, da es eine Reihe von Zigeunergeheimnissen gab, über die ich mich gern informiert hätte. Das hätte mir jedoch nur gelingen können, solange ich noch bei der Polizei war. Sie hätten mich in ihre Geheimnisse nur eingeweiht, wenn sie davon überzeugt gewesen wären, daß ich etwas für sie tun würde, da ja die Zigeuner mit der

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