Der Müllmann
Ich erinnerte
mich, wie Frau Kramer damals hierhergezogen war, als ich gerade zehn Jahre alt
war. Damals hatte man sie in der Nachbarschaft angefeindet, es gab irgendwelche
Gerüchte über sie, dass sie eine Tänzerin gewesen wäre, eine Kurtisane, was
wusste ich. Sie war damals schon über fünfzig, aber ich konnte mich an ihr
strahlendes Lächeln erinnern und auch daran, wie sie die ganzen Anfeindungen
mit einem Schmunzeln ignorierte und über den Dingen gestanden hatte. Jetzt war
von der alten Nachbarschaft außer ihr so gut wie niemand mehr übrig. Ich
glaube, ich war der Einzige, der sich noch daran erinnerte, welches Aufsehen
sie damals erregt hatte, als sie mit ihrem schwarzen Mercedes Cabrio so elegant
vorgefahren war, um diese alte Gründerzeitvilla zu beziehen.
Der Mercedes stand immer noch in der Garage und mich würde es nicht
wundern, wenn er noch angemeldet war. Doch seit einem Sturz vor zwei Jahren war
ihre Hüfte beschädigt, und sogar das Stehen bereitete ihr Schmerzen, auch wenn
sie es sich nie anmerken lassen würde.
Also war der Typ von der GEZ.
»Haben Sie Ihre Einkaufsliste?«, fragte ich höflich.
»Ja, Heinrich«, sagte sie und hielt mir die fein säuberlich
geschriebene Liste entgegen, zusammen mit einem ledernen Geldbeutel mit
silbernem Verschluss. In dem Täschchen befand sich das Geld für ihren Einkauf,
wie üblich auf den Cent genau zusammengerechnet. Seitdem sie gestürzt war, half
ich ihr mit den Einkäufen. Es war kein Umweg für mich, und ich war es ihr
schuldig, ohne sie und ihre Zivilcourage würden Elisabeth und vielleicht auch
Ana Lena womöglich schon nicht mehr unter uns weilen. »Sie wissen, dass es
nicht nötig wäre?«, fragte sie dann wie jedes Mal.
»Ich weiß«, lächelte ich zurück. »Aber so kann ich wenigstens etwas
mit Ihnen flirten!«
Sie lachte, und wie so oft ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass
ich für sie gerne vierzig Jahre früher geboren worden wäre.
Lass das Marietta nicht hören.
Warum nicht, dachte ich schmunzelnd. Die Marietta, die ich kannte,
hätte es nur amüsiert. Abgesehen davon kannte sie Frau Kramer auch.
Als ich, mit dem Zettel in der Hand, zu meinem Wagen ging,
warf ich einen Blick zurück auf ihre kleine Villa. Früher war sie strahlend
weiß gestrichen, und der kleine Rosengarten war stets ein Schmuckstück gewesen.
Heute blätterte die Farbe ab, und die eine Regenrinne an der Seite, über dem
Erker, hing schief. Wenn es regnete, lief sie über. Ich hatte ihr angeboten,
die Regenrinne zu richten, aber Frau Kramer wollte nichts davon wissen.
»Ich werde
ein Unternehmen damit beauftragen«, hatte sie gesagt. »Ich will ja nicht, dass
Sie von der Leiter fallen, Heinrich. Ich muss nur daran denken, einen
Dachdecker anzurufen.«
Durch das offene Fenster im Erdgeschoss hörte ich Rachmaninows
drittes Klavierkonzert, ihre Finger waren noch so behände wie früher, und sie
konnte sich immer noch in der Musik verlieren. Sie hatte recht, wer brauchte da
noch einen Fernseher.
Der Einkauf im Supermarkt ließ mich hoffen, dass es heute mal nicht
so lange dauern würde; tatsächlich stand an einer der Kassen nur eine Kundin,
während sich an den zwei anderen Kassen bereits lange Schlangen bildeten.
Während ich meinen Wagen ausräumte, wurde mir klar, dass ich einen
Fehler gemacht hatte, Kundin und Kassiererin, beide im mittleren Alter und
permanentblond, schienen sich bestens zu kennen und tauschten Belanglosigkeiten
über Neffen und Nichten aus. Ich übte mich in Geduld, doch davon hatte ich noch
nie zu viel. Nebenan wurde die Schlange zügig abgefertigt. Doch die Kassiererin
machte keine Anstalten, die einsame Packung Tee der anderen Kundin über den
Scanner zu ziehen. Ich räusperte mich … und wurde ignoriert.
»Wollen Sie nicht weitermachen?«, fragte ich höflich.
Beide Damen bedachten mich mit einem ungläubigen Blick.
»Sehen Sie nicht, dass ich mich hier unterhalte?«, fragte die
Kassiererin.
»Ich höre es«, antwortete ich und versuchte ruhig zu bleiben. »Aber
wie wäre es, wenn Sie es in Ihrer Freizeit tun?«
»Wissen Sie«, sagte die Kassiererin und lächelte gehässig. »Das ist
eine gute Idee.« Sie drückte einen Knopf und wies mit dem Finger hoch zu dem
Licht, das eben angegangen war. Kasse geschlossen, stand da. Hiermit schien mir
die Existenz der Servicewüste Deutschland hinreichend bewiesen.
Ruhig, Heinrich, dachte ich. »Ich möchte mit der Marktleitung
sprechen«, teilte ich ihr mit. Sie nickte und wies mit
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