Der multiple Roman (German Edition)
Zeit
ein idealer Zustand der Inhaltsform erreicht worden: eine Art vollgepackte Leere. Wogegen Beckett in den 1950 er Jahren die totale Leere wollte. Er wollte leeren Raum. Aber das furchtbar prosaische Problem dieses Arguments ist, dass man, wenn man wirkliche Leere möchte, überhaupt nicht schreiben muss. So dass das, was Beckett in seinen Dialogen mit Duthuit als unlösbare Paradoxa darstellt, in Wirklichkeit die Auswüchse seiner Unaufrichtigkeit sind – seiner Vorstellung, dass es so etwas, wie eine »Pflicht, auszudrücken«, gebe. Denn natürlich existiert so etwas nicht. Beckett fuhr nicht mit dem Schreiben fort, weil es etwas so Unaufhaltsames gewesen wäre, wie zum Beispiel Durchfall. Nein, seine Motivationen weiterzuschreiben waren zweierlei. Einmal hatte Beckett schlicht und einfach literarische Ambitionen: einen gewissen Größenwahn, bedrängt durch das Bild von Joyce, der hinter ihm aufragte wie eine blinde Herme im Zwielicht eines Schlossgartens. Aber dann war da auch noch etwas anderes, etwas, das Beckett unbedingt ausdrücken musste. Und darin bestand der wahre Grund dafür, dass er immer weitermachte.
Schließlich bestand Beckett darauf, dass alle seine Romane als großes Ganzes betrachtet werden sollten. 1954 brachte er dies in einem Brief an seinen deutschen Lektor Peter Suhrkamp zum Ausdruck:
Natürlich war ich enttäuscht, dass Ihr Plan, die drei Texte in einem einzigen Band zu veröffentlichen, nicht umgesetzt werden konnte. Aber nach weiterem Überlegen scheint mir dieses Werk nur dann abgeschlossen zu sein, wenn man die Unmöglichkeit seiner Weiterführung als gegeben betrachtet. Das ist leider mein Gefühl bei der Sache, aber schließlich weiß man nie. Genauso, wie man vielleicht
Murphy
als Ausgangspunkt betrachten könnte. [636]
An anderer Stelle beschreibt er dieses Ganze, das kein Ganzes war, als eine »Serie«, [637] eine Reihe von Figuren, bestehend aus Murphy, Watt, Mercier und Camier, den Erzählern der
Nouvelles
und von
Premier Amour
, die ihren Höhepunkt in Molloy, Malone und dem Erzähler von
Der Namenlose
findet, zusammen mit Vladimir und Estragon in
Warten auf Godot
. Es waren im Prinzip immer »dieselben Gammler«. Und es war Beckett nur möglich, diese Reihe zu entwickeln, indem er in die – in seinen Augen – tote französische Sprache wechselte. Warum hätte er sonst am 15 . Dezember 1946 an seinen Freund George Reavey geschrieben: »Ich denke nicht, dass ich in der Zukunft viel auf Englisch schreiben werde …«? Und ich glaube ihm. Im Französischen hatte er die für ihn nötige Form von Schwäche gefunden.
4
Ich weiß wohl, daß man, um sogar diese schreckliche Sache zu einem annehmbaren Abschluß zu bringen, jetzt nichts anderes zu tun braucht, als aus dieser Unterwerfung, aus dieser Duldung, aus dieser Treue zum Scheitern einen neuen Anlaß zu machen, einen neuen Bezugspunkt …
Mensch, er wusste, wovon er sprach. Denn das ist alles, was man machen muss, um Beckett auf den Kopf zu stellen. Sie ist bösartig, diese Interpretation, aber sie ist auch wahr. Beckett wollte nicht das Nichts repräsentieren. Warum auch? Er wollte zeigen, auf welchen Wegen sich das Leben dem Nichts annähert: im Wahnsinn, im Altern, in der Krankheit, der Verwahrlosung, in allem machtlosen Brimborium, in den Millionen Schwächen. Und dies ist nicht einmal ein besonders philosophischer Ansatz. Stattdessen gehört er in die Welt der Irrenanstalten, der Altenheime, in die Windeln der Alten. Trotz all seiner Sprünge und Schlängeleien stellt sein Stil eine Kontinuität dar.
Serie
war das richtige Wort. Beckett war einer der frühesten Serial Artists. Auch wenn dies erst durch den größten Bruch möglich gemacht wurde, den er sich nur denken konnte: indem er die Sprache wechselte und auf Französisch weiterschrieb.
5
In seinem Aufsatz über Joyce aus dem Jahre 1929 hatte Beckett die Erfindung von Joyces internationalem Esperanto in
Work in Progress
mit dem synthetischen Italienisch von Dantes
Göttlicher Komödie
verglichen. Bei beiden handelte es sich um grenzüberschreitende Phänomene; beide waren Werke des Widerstands. Genauso wie Dante seinen eigenen synthetischen italienischen Dialekt durch die Synthese diverser heimischer italienischer Dialekte als Reaktion auf die politische Macht des mittelalterlichen Lateins erfand, so hatte Joyce in
Work in Progress
seinen eigenen europäischen Dialekt als Widerstand gegen die vorherrschende Abstraktion der englischen Sprache erfunden.
Weitere Kostenlose Bücher