Der multiple Roman (German Edition)
die anderen Figuren, die durch meine Bücher ziehen. Lebte sie wirklich? Nein, jetzt, wo ich angestrengt darüber nachdenke – sie lebte nie. Aber von nun an ist sie wirklich, da ich sie erschaffen habe, und diese Existenz, die ich ihr gebe, wäre ein aufrichtiges Zeichen meiner Dankbarkeit, hätte sie nur jemals existiert. [745]
Dies ist genauso erstaunlich wie heikel. Und es ist viel ungewöhnlicher, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn Nabokov enthüllt nicht auf einmal, indem er schnell den Stoff wegzieht, dass alles nur ein Trick gewesen ist, ein Kunststückchen. Sein Schluss ist aufgeladen, mit einer viel grandioseren Form der Chuzpe. Nabokov zeigt, dass alles immer unsicher ist, im Leben genauso wie in der Kunst: Alles ist, wie wenn jemand in einer Zaubershow weggezaubert wird. Dinge überleben nur, wenn man ihnen eine künstlerische Form gegeben hat.
Die Kunst ist daher auf gewisse Weise wirklicher als das Leben. Allerdings ist sie unveränderlich. Nur die Kunst bildet mit ihrer Leidenschaft für Form eine dauerhafte Version der imaginären Dinge dieser Welt.
In der englischen Übersetzung einer Frau namens Miss Hilda Ward, die Nabokov überarbeitete, erschien »Mademoiselle O« in Amerika, in der Januar-Ausgabe des
Atlantic Monthly
von 1943 , ohne Hinweis darauf, ob es sich dabei um Fakt oder Fiktion handelte. Im Englischen endete das Stück anders:
Meine gewaltige, mürrische Mademoiselle O macht sich gut auf der Erde, aber man kann sie sich unmöglich in der Ewigkeit vorstellen. Habe ich sie wirklich vor der Fiktion gerettet?
Kurz bevor der Rhythmus, den ich höre, stockt und langsam verklingt, ertappe ich mich dabei, wie ich mich frage, ob ich während all der Jahre unserer Bekanntschaft nicht etwas an ihr übersehen hatte, das viel mehr war als ihr Name oder ihr Doppelkinn oder ihre Art oder sogar ihr Französisch – etwas, das vielleicht mit jenem letzten Blick auf sie verwandt war, mit jener schreienden Täuschung, durch die sie mir die Genugtuung meiner eigenen Güte sichern wollte, oder mit diesem Schwan, dessen Qualen so viel wirklicher waren als der matte weiße Arm eines Tänzers; kurz gesagt etwas, das ich erst zu schätzen lernte, nachdem die Dinge und Wesen, die ich in der Sicherheit meiner Kindheit geliebt hatte, in Asche verwandelt worden waren oder ihnen jemand mitten ins Herz geschossen hatte. [746]
Statt eine wörtliche Übersetzung zu sein, war dies ein völlig neuer Zusatz. Aber der Text beschäftigte sich trotzdem mit dem gleichen Problem: etwas Beständiges hinter der Vergänglichkeit der Realität zu finden. Dies kann man dort, in der »schreienden Täuschung«, sehen, was ein besonderer Aspekt von Mademoiselle O ist, der durch die Echtheit ihres Schmerzes noch viel ergreifender wird – und dies wird durch den sterbenden Schwan symbolisiert: ein Schmerz, der noch viel schmerzhafter ist, als es seine konventionelle Darstellung in der Kunst der Ballerina suggeriert. Nabokovs Theorie zufolge muss es möglich sein, etwas zu schaffen, das nicht dem Tod und dem Wandel unterworfen ist, etwas, das seiner Mademoiselle entspräche – eine Bedeutung, die sich Nabokov erst enthüllte, als er schließlich lernen musste, dass alles flüchtig ist, dass auch die am heißesten geliebten Menschen und Gegenstände eines Tages verschwinden.
Eine veränderte Fassung dieser Fassung erschien dann als fünftes Kapitel von Nabokovs Autobiographie
Conclusive Evidence
, die 1951 in Amerika veröffentlicht wurde. All dies wurde für Nabokovs russische Fassung von
Conclusive Evidence
übersetzt – und im Laufe dieses Prozesses überarbeitet – und erschien 1954 unter dem neuen Titel
Drugie berega
(
Andere Ufer
). Die russische Fassung war wieder anders. Sie war viel lakonischer: Nabokov beschrieb schlichtweg seinen Gang um den See, wie er den Schwan entdeckte, und schloss mit dem Eingeständnis, dass, als er zwei Jahre später von Mademoiselles Tod erfuhr, »das Erste, was mir erschien, nicht ihr Doppelkinn waren, nicht ihre Beleibtheit und nicht einmal der Wohlklang ihres Französischs, sondern genau dieses arme, ersterbende Triptychon: aus Boot, Schwan, Welle«. [747]
Die Diskussion über die Fiktion ist hier verschwunden. Sie ist ersetzt worden, durch einen Dreiklang, eine Form, die sogar Mademoiselle O selbst ersetzt hat.
Weil er aber immer noch versuchte, klarer auszudrücken, was er sagen wollte, übersetzte und überarbeitete er 1967 die russische Fassung für
Speak,
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