Der multiple Roman (German Edition)
seiner eigenen Weiterentwicklung dieser Idee, dass das Wesen der Kunst die Unvollkommenheiten der Welt irgendwie überleben konnte. Er machte darauf aufmerksam, dass man manchmal auf mystische Weise einen Blick auf improvisierte Beispiele für ungeplante Kunst im scheinbaren Durcheinander der Wirklichkeit erhaschen konnte: »Ich habe wahre Komödien beobachtet, inszeniert von irgendeinem unsichtbaren Genie, wie an jenem Tag, als ich zu sehr früher Stunde einen gewaltigen Berliner Briefträger auf einer Bank schlafen sah und dabei zusehen konnte, wie sich zwei andere Briefträger mit grotesker Schurkenhaftigkeit in der Deckung eines Jasminbusches an ihn heranschlichen, um ihm etwas Tabak in die Nase zu schieben.« [741] Das Leben – zu diesem letzten Punkt kam Nabokov im Pariser Exil –, das Leben, diese Abfolge von Misserfolgen und Fehlern, schien in gewissen Augenblicken in seiner Struktur den flinken formalen Eigenschaften der Kunst ähnlich zu sein.
2
Ein Jahr zuvor hatte Nabokov in der zweiten Ausgabe von Adrienne Monniers Zeitschrift
Mesures
einen Text mit dem Titel »Mademoiselle O« veröffentlicht, den er auf Französisch über seine französische Gouvernante geschrieben hatte. Nabokov hatte den Text in zwei Wochen geschrieben und ihn erstmals bei einem Treffen des PEN -Zentrums in Brüssel gelesen, dann beim Russian Jewish Club und schließlich am 25 . Februar 1936 bei einer Lesung in Paris, nach der der französische Schriftsteller Jean Paulhan den jungen und unbekannten russischen Schriftsteller fragte, ob er ihm erlauben würde, den Text in
Mesures
zu veröffentlichen, deren Mitherausgeber er war. [742]
Der Text beginnt mit einer Passage, in der Nabokov seiner Leserschaft ein Phänomen erklärt, das er schon oft beobachtet hatte – dass, sobald er einen Teil seiner Vergangenheit an eine der Figuren seiner Romane verlieh, dieses Stückchen von da an der Figur gehört und nicht länger ihm selbst. Und dies sei wieder einmal passiert, stellt er fest, im Fall dieser französischen Gouvernante, deren Porträt er kürzlich Lushin geliehen hatte, dem Held seines Romans
Lushins Verteidigung
.
Statt eines unersättlichen fiktiven Textes wollte Nabokov wirkliche Erinnerungen zu Papier bringen, um seine Gouvernante daran zu hindern, ihn ganz zu verlassen: Um seine Mademoiselle O vor der Fiktion zu schützen, wollte er noch einmal über sie schreiben. Es reicht ihm nicht, sie in seiner eigenen Erinnerung aufzubewahren – und vielleicht hätte dies ausreichen können, um das Publikum im PEN -Zentrum in Brüssel oder im Russian Jewish Club oder in einem Pariser Salon dazu zu bringen, über dieses Paradoxon zu stolpern und darüber nachzudenken, was da eventuell gerade vor sich ging. Denn möglicherweise war das seltsamer, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.
Nabokov erreicht in seinen Erinnerungen nämlich bald einen Moment, bei dem es sich nicht um seine eigene Erinnerung an Mademoiselle O handeln kann, sondern stattdessen um eine Darstellung dessen, was sie gedacht haben mochte, als sie am Bahnhof des am nächsten gelegenen Dorfes in Russland ankam:
… ich versuche jetzt, mir vorzustellen, was sie bei ihrer Ankunft sah und fühlte, diese alte Jungfer auf ihrer ersten langen Reise, deren gesamter russischer Wortschatz aus einem einzigen Wort bestand, das sie Jahre später wieder in die Schweiz mit zurücknehmen sollte: das Wort, »giddi-eh«, das »wo ist es?« bedeutet; das, wenn es ihren Mund verließ, wie der heisere Schrei eines verirrten Vogels, eine solche Kraft der Befragung entwickelte, daß es für alle ihre Bedürfnisse ausreichte. [743]
Diese Auswüchse seiner Phantasie hätten Nabokovs diverse Zuhörerschaften auf einen weiteren Gedanken bringen können – dass es sich hierbei vielleicht nicht nur um Erinnerungen mit künstlerischem Touch handelte, sondern dass sie vielleicht auch fiktiv getönt waren. Wenn Mademoiselle O nicht ganz wirklich ist, wenn sie jedenfalls fiktiver ist, als Nabokov zugibt, dann könnte es vielleicht auch noch Gründe, die nichts mit seiner Erinnerungskraft zu tun haben, dafür geben, dass ihr einziges russisches Wort
giddi-eh
ist, das Wort für
wo?
Es mag nicht so sehr wahr sein, wie künstlerisch wahr: Es mag ein Motiv sein.
Diese Erinnerungen sind auch eine Geschichte: eine Darstellung des Exils in einer Sprache, die nicht Nabokovs Muttersprache war. Darin versteckt sind diverse Motive, die thematisch mit dem Exil zu tun haben: Mademoiselle O,
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