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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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die Tochter französischer Eltern außerhalb Frankreichs, in der Schweiz; ihre Seele, im Exil der Fettleibigkeit ihres Körpers; die französische Sprache im russischen Exil. Und da ist auch Vladimir Nabokov, der jetzt aus Russland vertrieben auf Französisch über eine Frau spricht, die ihm einst Französisch beibrachte. Diese Geschichte handelt davon, wie es ist, sich nicht in der richtigen Sprache zu befinden. Ihr zentrales Motiv ist dieses wiederholte Wort,
giddi-eh
.
    Nabokov erklärt, dass sein Motiv nicht etwa so etwas Kleines sei wie das politische Exil: Vielmehr sei es etwas viel Umfassenderes und Universelles:
    Die Pein, die ich jetzt empfinde, wenn ich mich daran erinnere, daß das schöne Haus, in dem ich als Kind lebte, nichts mit jenen politischen Geschehnissen zu tun hat, die, um ein Klischee der Journalisten zu benutzen, mein Land umstürzten. Ich kann diesen politischen Geschehnissen nur Unterhaltendes abgewinnen. Meine Erinnerungen ruhen und bewegen sich auf einer ganz anderen Ebene, einem Gedankengang folgend, der nichts mit den Unfällen der Geschichte zu tun hat. Nein, ich seufze nicht den Seufzer des Exils, außer man betrachtete das Leben des reifen Mannes als eine Art von Exil, verglichen mit der Leidenschaft seiner Jugend. [744]
    Es geht hier nicht um etwas so Nebensächliches wie die Flucht vor den Bolschewiken, vor den Kommunisten. Es geht um das universelle Problem, jene Dinge zu erhalten, die einem etwas bedeuten. Alles verschwindet, immer. Daher ist jeder auf gewisse Weise ein Flüchtling, ein amateurhafter Emigrant. Niemand besitzt seine Vergangenheit.
    An einem frühen Punkt seiner Erinnerungen oder seiner Geschichte versichert Nabokov, dass O der vollständige Name seiner Mademoiselle ist: keine Abkürzung. Aber dieser seltsame Name ist ein Hinweis, den Nabokov absichtlich in den Text integrierte. Er ist da, um zu zeigen, dass es sich bei dieser Erinnerung selbst um Fiktion handelt. In der Form dieses Os lösen sich die Bilder der Geschichte auf, der Mond, die Leere, die Abwesenheit, der See, an dem Mademoiselle O aufwuchs und zu dem Nabokov viele Jahre später zurückkehren wird. O ist ein Motiv, sowohl ein visuelles als auch ein phonetisches – denn sein Klang ist das französische Wort für Wasser,
eau
, das man wiederum aus dem französischen Wort für die Schönheit,
beauté
, heraushören kann.
    Und außerdem ist es gar nicht ihr wirklicher Name. Es ist nur eine Andeutung ihres Namens, eine Fiktion, ein Drittel der Klänge, die ihn bilden. Der wirkliche Name von Mademoiselle O, ihr Vorbild, war Cécile Miauton.

3
    Das Grenzgebiet zwischen dem Unwirklichen und dem Wirklichen ist die Stätte von Nabokovs Stil. Sein Stil und seine Theorie des Stils basieren auf einer Umkehrung der normalerweise anerkannten Ordnung der Dinge: Nicht die Kunst ist dem Leben unterlegen, das Leben ist der Kunst unterlegen. Denn die Kunst ist beständig, und das Leben ist es nicht. Diese Überzeugung steht im Zentrum von »Mademoiselle O«, und genauso prägt sie die diversen Übersetzungen dieses Textes, erst ins Englische, dann ins Russische und dann wieder ins Englische – in denen Nabokov sich weiterhin bewegte und verschob und auf diese Weise versuchte, seine Idee von den Erzählungen und ihren weniger wahren Geschichten präziser darzustellen. Jeder der unterschiedlichen Schlüsse stellt das Problem ein wenig anders dar, jeweils in einer anderen Sprache.
    Die erste französische Fassung endet mit Nabokovs Darstellung davon, wie er Mademoiselle in Lausanne besuchte, lange nachdem sie die Familie verlassen hatte und Nabokov bereits im Exil lebte. Da sie mittlerweile fast völlig taub war, kaufte Nabokov ihr ein Hörrohr – für das sie ihm überschwänglich und höflichst und – wie Nabokov hinzufügt, heuchlerisch – dankte. Sie konnte immer noch nichts hören. Aber dann folgt eine Coda, in der Nabokov beschreibt, wie er sie verließ und einen Spaziergang machte, auf dem er einen Schwan auf einem See beobachtete, der wenig erfolgreich versuchte, sich selbst in ein Boot zu bugsieren. Es war dieser Schwan, schreibt Nabokov weiter, »an den ich mich sofort erinnerte, als ich einige Jahre später erfuhr, dass Mademoiselle nicht mehr war«. Und dann kommt er zu einem erstaunlichen Schluss:
    Ich dachte, ich könne mich vielleicht trösten, indem ich von ihr sprach, und nun, da alles vorbei ist, habe ich das seltsame Gefühl, sie in jeder Einzelheit erfunden zu haben, genauso allumfassend wie

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