Der multiple Roman (German Edition)
Goldenen Tiger? Wo waren sie nur alle hin? »Kundera ist Emigrant, dieser Playboy, der schreiben und reden konnte, wie kein anderer und immer, wenn er die Národní Třída herabspazierte, drehten sich alle Mädchen nach ihm um, na, eigentlich alle, die sich für tschechische Literatur interessierten«. Und wo war Eduard Goldstücker, »›der schöne Edó‹, wie sie ihn nannten? Dieser Bewunderer Franz Kafkas, der die Mode aus Budapest und Wien trug und dessen lockiges Haar vor Brillantine glänzte«; und wer, fragt Hrabal, »wird die Schuld dafür übernehmen, dass der Dichter Jiří Kolář seinen Tisch und Stuhl vom Café Slavia nach Paris verlegen musste?« – »dieses Gründungsmitglied des Böhmischen Fanclubs, der bei Fußballspielen von Slavia immer hinter dem Tor unter der Uhr stand, in seiner legeren Kluft?«
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Diese Vision hatte natürlich nicht nur Benjamin. Sie war schon zuvor in der Theorie und Praxis des Dichters Friedrich Hölderlin sichtbar geworden: dessen Ziel es war, den
Grund des Wortes
zu finden – eine absolute sprachliche Wahrheit. Dies ist die Theorie, die hinter Hölderlins Beschreibung des Übersetzers in seinem berühmten Brief an Wilmans vom 28 . September 1803 steht, in dem er Übersetzungen als Verbesserung, als Korrektur darstellt: als Möglichkeit, um dem Original dabei zu helfen, seine reine Bedeutung zu entfalten. Aber das macht mehr Sinn als Benjamin …
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In seinem großartigen Buch
Der Anspruch der Vernunft
argumentiert der amerikanische Philosoph Stanley Cavell, dieser Traum von der Privatsprache sei eigentlich »eine Phantasie oder als Furcht entweder vor dem Unvermögen zur Äußerung, bei dem ich nicht nur nicht erkannt würde, sondern in der ich auch machtlos bin, mich selbst kenntlich zu machen, oder daß sich das, was ich äußere, meiner Kontrolle entzieht.«
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»Wenn wir sagen: ›jedes Wort der Sprache bezeichnet etwas‹«, schrieb Wittgenstein, »so ist damit vorerst noch
gar
nichts gesagt …«
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Übersetzungen – schlägt David Bellos vor, George Perecs Übersetzer ins Englische – sollten nicht versuchen, einen Ersatz für das Original zu liefern, sondern stattdessen »eine bestimmte Gemeinschaft mit einem akzeptables Ebenbild von etwas versehen, das in einer Fremdsprache ausgedrückt wurde.« Dies macht den Anschein einer kleinen Definition – aber ich denke, dass sie in ihrer Trockenheit pyrotechnische Eigenschaften hat.
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Aber eigentlich ist der Ursprung dieser Untersuchungen gar nicht so wichtig. Viel wichtiger sind ihre Konsequenzen; und diese haben heute noch immer gewisse Auswirkungen. Und ich denke daran, dass vor nicht allzu langer Zeit zwei argentinische Schriftsteller in ihren Texten über Borges jeweils versucht haben, dieses neue Verhältnis zur Realität zu definieren. In seinem Buch
The Borges Factor
kommentiert Alan Pauls, dass es für Borges »kein Unglück war zu verlieren, sondern ein Produkt, ein
Werk
…« Tatsächlich, so Paul, macht dies die Grundlage seines Stils aus. Und Paul fährt damit fort, eine Verbindung zwischen diesem Eindruck und Borges Technik herzustellen, seine Werke bereits als unmittelbare und imaginäre Klassiker zu erfinden: »
im Inneren
seines Werkes die Mechanismen eines Prozesses in Gang zu setzen (Zugang zu der Kategorie der Klassiker), der traditionell
außerhalb
des Werkes wirkt …« So kann man dieses neue Verhältnis zur Realität in Buenos Aires beschreiben. Während Ricardo Piglia in
Der letzte Leser
schreibt, dass »[w]omöglich die wichtigste Lehre von Borges’ Schriften ist die Gewißheit, daß die Fiktion nicht nur von dem abhängt, der sie macht, sondern auch von dem, der sie liest.« Und er fügt hinzu: »Das Borgeanische (wenn es existiert) besteht in der Fähigkeit, alles als Fiktion zu lesen und an ihre Macht zu glauben. Fiktion als Theorie der Lektüre.«
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Oft sind die Romane, die am einladensten zu sein scheinen auch jene, die uns unbemerkt am stärksten kontrollieren. Wenn ein Schriftsteller den abwesenden Leser anredet, handelt es sich nie um eine wirkliche Unterhaltung. Genauso entpuppen sich Schriftsteller, die versuchen, den Leser in die Gestaltung des Textes einzubeziehen, als wahre Diktatoren – aber dann nahm Laurence Sterne dies bereits in
Tristram Shandy
,
Gentleman
auf die Schippe, mit seiner Leerseite für unsere gekritzelten Porträts der Witwe Wadman.
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Die Realität wirkt in offenem Geheimnis.
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Die New York Edition mit Alvin Langdon
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