Der multiple Roman (German Edition)
im Grunde genommen eine Verarmung bedeutet. Deswegen sollten wir nicht zulassen, dass irgendeine Haltung unser Potential verringert, zum Knebel wird …« [145] Und deshalb unterteilte Gombrowicz Schriftsteller in zwei Kategorien: diejenigen, die bereit sind, ihr Potential einzugrenzen und die er, der Bequemlichkeit halber, Dichter nannte. Und diejenigen, die stattdessen versuchen, sich Einschränkungen jeder Art zu verweigern: die Schrottsammler. Ein Stilist sollte immer allen jenen Dingen gegenüber offen sein, die seinen Stil zerstören könnten (während Saul Bellow es im selben Jahr in Chicago nicht über sich brachte, gewisse Elemente in seinen Stil einzubauen, gegenüber denen er sich einige Jahre später öffnen konnte: Witzeleien, Abgebrühtes und Unreifes). »Meine Kunst«, sagte Gombrowicz, »hat sich gebildet nicht in der Konfrontation mit einer Gruppe von Menschen, die mir verwandt sind, sondern in Beziehung zum Feind und in der Konfrontation mit dem Feind.« [146]
Dies war Gombrowicz’ Argument gegen die Dichter: Sie versuchten nie, ihre Gegner zu verschlingen. Während wahre Stilisten, die Romanschriftsteller, ihre Werke absichtlich mit so viel Krempel überladen, wie sie nur irgend finden können. [24]
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Aber dieser Krempel wird dann so angeordnet, dass er die abgesteppte Oberflächenstruktur eines Netzwerkes bildet. Und die Identität des entstehenden Romans ist deswegen eine Chronik seiner Wiederholungen – oder, gleichzeitig, eine Auflistung seiner Eigentümlichkeiten, seiner Momente der Wahrheit. Der Krempel kann sich nie ganz in die Form auflösen.
Andererseits mag es durchaus möglich sein, dass im Gedicht eine perfekte Symbiose von Form und Inhalt realisiert werden kann, weil in einem Gedicht viel weniger Elemente vorkommen: wie in diesem winzigen Gedicht, das Stéphane Mallarmé seinem Freund, dem Schriftsteller-Dandy Edouard Dujardin gewidmet hat. Weil Mallarmé gerne mit Form und Inhalt spielte. Schließlich war er selbst ein Dandy. Er machte aus seinen Gedichten gerne Allegorien – sowohl aus den längeren, aufwendigeren, wie
Un coup de dés
(
Ein Würfelwurf
), als auch aus seinen Miniaturen,
Vers de circonstance
, die er als Geschenke an Freunde schickte. Und so schrieb Mallarmé in ein Exemplar seines grandiosen Gedichts
L’Après-midi d’un faune
, das er an Dujardin schickte, den folgenden Vierzeiler, mit dem er den Faun des Gedichts bittet, wegzuschweben und Dujardin, seinem normannischen Bruder, zu danken:
Faune, qui dans une éclaircie
Vas te glisser tout en dormant,
Avec quatre vers remercie
Dujardin, ton frère normand.
Sie sieht simpel aus, diese kleine Miniatur, aber sie ist verschlüsselt, mit Binnenreimen auf é und air – der Fachbegriff für diese Reime ist
rime normande
. Und daher, Dujardin ist selbst
normand
, ist sogar der Ton des Gedichts persönlich auf Dujardin abgestimmt: Und so stellt die Form des Gedichts das Analogon zu seinem Adressaten dar, und andersherum. [147]
Ja, dies ist, denke ich, ein Objekt, in dem Form und Inhalt das Echo des jeweils anderen sind. Aber selbst diese vier Zeilen haben ihren Überschuss, ihren literarischen Überfluss: Und sobald man es mit mehr als nur vier Zeilen Zeichen zu tun hat, wird dieser Prozess noch um einiges ungemütlicher. Daher wird das Wesen des Romans nie – nein, nie – in solchen poetischen Spiegelungen und vertikalen Mustern zu finden sein, sondern eher in etwas viel Beweglicherem, Freierem: in der Kunst der Gestaltung.
Der Roman ist eine Kunstform, dessen Effekte nur im Laufe der Zeit verstanden werden können; der Roman ist auch die Kunstform des Krempels. Seine Vorgehensweise ist die Verwandlung der alltäglichen Welt in ein System aus Echos, Parallelen und thematischen Umkehrungen: die reine Akrobatik. Was ich meine ist nur, dass ein Roman im Prinzip ein Zirkus ist, eine sehr kleine, dreckige Show – die Art Show, die in jeder Stadt der Welt Sinn ergibt.
Unbegrenztheit
1
Es gibt eine Zeichnung von Saul Steinberg mit dem Titel
The Art of Living
, die eine Wohnanlage zeigt: ohne Fassade, so dass man freie Sicht auf eine Reihe bewohnter Räume hat. Anhand dieser Zeichnung, bemerkte der Schriftsteller Georges Perec, ließ sich eine riesige Inventarliste aller abgebildeten Objekte erstellen:
9
Zimmer, deren Böden sicherlich mit Teppichböden ausgelegt sind
3
geflieste Räume
1
Innentreppe
8
einfüßige Tischchen
5
niedrige Couchtischchen
5
kleine Bücherschränke
1
mit
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