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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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wird, meiner Meinung nach, Dujardins doppelter Komplexität nicht gerecht. Auf der anderen Seite hatte dieser, indem er seinem Roman die Prinzipien des Motivs, der Wiederholung und des Echos kleinster Elemente zugrunde gelegt hatte – diese Häppchen von Daniel Princes innerem Monolog –, eine neue Möglichkeit entdeckt, um Prosa poetisch zu machen, um sie formal zu organisieren. Denn je diskreter eine Einheit ist – bei einem Roman oder einem Gedicht –, desto leichter ist es, Themen auszubalancieren und sichtbare (und weniger sichtbare) Muster und Beziehungen zu schaffen. Aber Dujardin hatte mit diesem Erzählstil gleichzeitig eine Technik erfunden, um alltäglichen Krempel in seine Geschichte einzubauen, die bis dahin unvorstellbar gewesen war. Dieser Krempel war größtenteils nicht wirklich wichtig, wie zum Beispiel jenes kurzweilige Detail, mit dem sogar der Meister der Beobachtungen, Gustave Flaubert, nichts anfangen konnte: »Warum ist der Treppenläufer hier an der Ecke umgeschlagen?« [141] [23]
    Aber es gab auch skandalöseren Krempel.
    Gegen Ende des Romans bittet die Schauspielerin Leah Daniel, er solle im Salon warten, während sie sich auszieht, um ins Bett zu gehen. Und das wird, das muss, denkt Daniel Prince, nun sein großer Augenblick sein: Jetzt wird sie endlich mit ihm schlafen. Aber während er sich in Gedanken schon die Einzelheiten ausmalt, geht ihm ein eher praktischer Gedanke durch den Kopf:
    es sind schon sechs Stunden her, seit ich auf der Toilette am Boulevard Sébastopol war; die Toilette ist links im Flur; für ein zärtliches Gespräch braucht man Ruhe; aber aufgepaßt beim Hinausgehen, keinen Lärm, man darf mich nicht hören; hoffentlich ist im Flur Licht; nun, ich habe ja Streichhölzer; Tür aufmachen; Achtung! keinen Lärm; auf Zehenspitzen hinaus … Gott sei Dank! Es brennt Licht; die Tür ist angelehnt; daran denken, daß Männer vor dem Verlassen der Toilette ihre Kleidung wieder in Ordnung bringen müssen … ach, diese Erleichterung – wie nötig sie war! ich lasse die Tür wie vorher angelehnt; die Tür zum Salon; ganz leise; jetzt; gut! niemand kann mich gehört haben; und nun sich ganz bequem in den Sessel setzen. [142]
    Aber noch intensiver und kantiger als das Ausmaß von Dujardins Beschreibungen ist das Ausmaß seiner Moralvorstellungen. Während Daniel im Salon wartet und wartet, werden seine Gedanken immer weniger romantisch und sind zuletzt eher finanzieller Natur.
    Das muß anders werden; ja, heute Nacht schlafe ich mit ihr; wäre zu dumm; eine Affäre, die sich schon so lange hinschleppt und die schon so viel gekostet hat und dann zu nichts führt; all das Geld und die vergeudete Zeit, um die Reize eines Mädchens zu bestaunen, das im Nouveauté eine kleine Rolle spielt; pure Dummheit! Das ist zweihundert Francs wert und nicht mehr; das hochtrabende Getue ist unangebracht! Ein Mädchen, das sich jeden Abend herausfordernd auf der Bühne zur Schau stellt und wenn es in Geldverlegenheit ist, in Caféhäuser geht, um Männer kennen zu lernen … [143]
    Es ist etwas lächerlich, dass Dujardin als Ästhet gehandelt wird. Er war stattdessen der Dreckigste aller Realisten. Und in diese Rolle gezwungen wurde er von den Anforderungen der fein säuberlichen Netzwerke in seiner Schöpfung.
    6
    Am 28 . August 1947 hielt der exilierte Pole Witold Gombrowicz einen Vortrag auf Spanisch, der den Titel
Contra los poetas
(
Gegen die Dichter
) trug. Gehalten wurde der Vortrag in Buenos Aires, in einem Buchladen namens Fray Mocho, und Gombrowicz’ Argument war einfach: Er war sehr für Krempel zu haben. Aber das, lamentierte er, sei nichts Besonderes. »Obwohl wir inzwischen praktisch alles anzweifeln, verehren wir immer noch den Kult der Poesie und der Poeten, und das ist die einzige Gottheit, bei der wir uns nicht schämen, sie mit großem Pomp anzubeten, mit tiefen Verbeugungen und schwellender Stimme …« [144] Aber, so Gombrowicz, wir sollten die Poesie nicht anbeten: Wir sollten nichts anbeten, das so viel Wert auf seine Sauberkeit legt. Denn die Poesie war der Inbegriff von Stil, und Gombrowicz misstraute Stil. Oder, genauer gesagt, er war ein Stilist, dem die Nachlässigkeit geringerer Stilisten unangenehm war, für die der Stil ein Zufluchtsort war, ein Alibi. Nein, protestierte Gombrowicz in seinem problematischen Spanisch: »Wir sollten die Wahrheit nie aus den Augen verlieren: dass jeder Stil, jede ausgeprägte Haltung durch Ausschluss entsteht und somit

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