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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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Schöpfungen entwickelt sich erst während des Schöpfungsprozesses selbst. Bedeutung ist ein Nebeneffekt der gigantischen Aufgabe des Schreibens und Überarbeitens. Denn ein Roman ist ein sich selbst zusammensetzendes Flugzeug. Ein Roman ist ein Multiple. Ich erinnere mich an Thomas Manns Nachwort zu
Der Zauberberg
– seinem großen Fluchtroman: wo er über die Zeit schreibt, als er begann, diesen Roman zu schreiben: »Eine heimliche Ahnung von den Gefahren der Ausdehnung dieser Erzählung, von der Neigung des Stoffes zum Bedeutenden und zum gedanklich Uferlosen, beschlich mich schon bald.« Dabei handelte es sich, wie er zugab, um eine Neurose, die er schon kannte: »Bei der Konzeption erscheint eine Arbeit in harmlosem, einfachem und praktischem Licht. Sie scheint keine große Mühe und Ausführung zu erfordern.« [344] Und während er dann noch pragmatisch hinzufügt, dass so ein Selbstbetrug eigentlich recht hilfreich ist, da er dem Schriftsteller erlaubt, ein offenkundig bestehendes Problem zu ignorieren – alle zukünftige Albträume – spricht er gleichzeitig auch eine noch intimere Begründung an:
    Ein Werk hat unter Umständen seinen eigenen Ehrgeiz, der den des Autors weit übertreffen mag, und das ist gut so. Denn der Ehrgeiz darf nicht vor dem Werk stehen, sondern dieses muß ihn aus sich heraus vorbringen und dazu zwingen. [345]
    Sowohl das Werk als auch die Werke sind geduldige Bemühungen um Selbst-Vervielfältigung.
    2
    Am 3 . November 1894 setzte sich Henry James an seinen Schreibtisch in De Vere Gardens in London, geplagt von Schaffensangst. Er war 51  Jahre alt und begann wieder einmal einen neuen Roman. Aus diesem Romanprojekt sollte das Meisterwerk
The Wings of the Dove
(
Die Flügel der Taube
) werden. Aber im November 1894 hatte James noch überhaupt keine Idee für eine Geschichte. Und so unterzog er sich einem traurigen Prozess: Er versuchte, die Form einer perfekten Geschichte zu konstruieren. Er begann seine Notizbucheinträge mit dem einzigen Element, das er sich bereits ausgedacht hatte – ein junges Mädchen das »nicht lange zu leben hatte«. Dann fügte er einen »jungen Mann« hinzu, der möchte, dass sie das einfache Glück einer einfachen Lebensweise »kennen lernt«. »Dieses ›etwas‹ kann – natürlich – nur die Chance sein, zu lieben und geliebt zu werden.« [346] Aber das reichte noch nicht für eine Geschichte: James war sich dessen bewusst. Es reichte nicht mal wirklich für eine Anekdote. »Er ist nicht in sie verliebt, hat nur tiefes Mitleid mit ihr: Er hat genug Phantasie, um zu wissen, was sie fühlt.« Und weiter: »Doch der junge Mann gehört zu einer anderen Frau, … und darin scheint eine kleine Geschichte zu liegen.« Es war gerade mal der Anfang einer möglichen Geschichte mit drei widersprüchlichen Elementen: »Er schwebt mir als ein Mensch vor, der etwas aufs Spiel setzen, etwas verlieren, opfern muß, um freundlich zu ihr zu sein, es ohne Lohn zu sein, denn das arme Mädchen hätte, selbst wenn er sie liebte, kein Leben zurückzuschenken.« [347]
    Zuallererst ist diese Liebesgeschichte also wirklich eine Geschichte, in der es um Sex geht. Aber James entschied bald, dass er das Mädchen »als zu krank
dafür
darstellen muß« – denn es wäre »[a]uch wegen der offensichtlich recht jämmerlichen und vulgären Idee, das als Heilmittel für ihre Verzweiflung – als einziges Heilmittel – darzustellen. ›Oh, sie stirbt, ohne das gehabt zu haben? Gib es ihr und laß sie sterben‹ – das kommt mir reichlich zweitrangig vor.« [348] Die Freuden des Sex ergeben noch keine Geschichte. Oder, genauer gesagt, es wäre eine sehr langweilige Geschichte – während »seine Beziehung zu der Frau … durch diese Begegnung die Konturen eines kleinen Dramas [bekommt]; er hat nie daran gezweifelt (ebenso wenig wie sie), daß er sie liebt.« Eine Geschichte war für Henry James ein Teufelskreis der moralischen Doppeldeutigkeiten. In dieser Hinsicht unterschied er sich, so James, von den Franzosen. »Schriebe ich für französische Leser, wäre alles einfach …« [349]
    3
    Die französische Öffentlichkeit! Mehr als zehn Jahre zuvor hatte James Folgendes an seinen Freund Theodore Child geschrieben: »Was zum Teufel ist über euch Franzosen gekommen? – ces messieurs scheinen in der Natur nichts mehr wahrnehmen zu können außer den Geschlechtsteilen. Die französische Vorstellungskraft ne sort pas de là. Du wirst diese Kritik vermutlich für die

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