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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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ersten Roman – den ihm eigenen Stil.
    Eines Tages, als er mit Gustav Janouch über einige konstruktivistische Gemälde diskutierte, soll Kafka gesagt haben: »Das alles sind nur Träume von einem wunderbaren Amerika, von einem Zauberland unbeschränkter Möglichkeiten. Das ist durchaus verständlich, da Europa immer mehr und mehr zum Land der unmöglichen Beschränktheit wird.« [565] Es ist richtig, dass Janouchs Erinnerungen an Kafka selten verlässlich sind. Aber diese Aussage steht trotzdem in Einklang mit jener Form der Wirklichkeit, die Kafkas Stil erfindet und erkundet. Denn dieser pikareske Roman besteht im Prinzip aus einer Reihe von Fallen. Karl denkt, dass er dabei ist, ein Land der Freiheit zu entdecken. Tatsächlich findet er sich ständig in albtraumartigen Zuständen wieder, die er teilweise selbst verschuldet hat. Der Roman besteht aus einer Abfolge von traurigen Zuhausen und dem unmöglichen Versuch, dieser scheinbaren Vorherbestimmung zu entkommen. Wo auch immer er hingeht, Karl wird bald wieder gebeten zu gehen. Dies ist eine Möglichkeit, die Bedeutung dieses Ortes zu beschreiben, den Kafka Amerika nannte. Diese Methode erlaubte es ihm, auf ein ganz privates Thema zu kommen. Es drehte sich alles um den Traum eines glücklosen Flüchtlings. In diesem Roman beginnt Kafkas großes Thema – dass man immer für alles verantwortlich ist, oder, genauer, dass einem immer für alles die Schuld gegeben werden kann: die bedrohlichsten Mechanismen der alltäglichen, traumartigen Welt. Nirgendwo ist man sicher.
    Dieser Roman trägt schließlich nicht ohne Grund den Titel
Der Verschollene
. Amerika repräsentierte in Kafkas Augen sowohl den Drang nach als auch die Unmöglichkeit von Freiheit. Und Freiheit hieß, verschwinden zu können, die Wahl zu haben, den einschränkenden Gefühlen der anderen zu entkommen. Jedes Mal, wenn Karl denkt, es gehe bergauf, wird er noch weiter hinab gezwungen. So funktioniert diese Struktur. »[E]s ist unmöglich sich zu verteidigen, wenn nicht guter Wille da ist«, denkt Karl, als er seine Arbeit im Hotel Occidental verliert. [566] Und dieser Gedanke beschreibt haargenau den moralischen Mechanismus von Kafkas Fassung einer amerikanischen Farce: Eine Handlung wird zur Farce, wenn in ihr kein guter Wille mehr ist. Oder, wie Kafka in einer anderen Unterhaltung, diesmal mit Max Brod – der immerhin vertrauenswürdiger war als Janouch –, gesagt haben soll: Es gibt »Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung – nur nicht für uns.« [567]
    Und diese Entdeckung machte Kafka in seiner Überarbeitung von Dickens’ Werken: wo jene, die am lebensnahsten zu sein scheinen eigentlich oft die leblosesten sind.
    5
    Es gibt eine mögliche europäische Fortsetzung dieses Experiments der amerikanischen Leichtigkeit.
    Denn am Ende von
Der Verschollene
tritt Karl Roßmann einem amerikanischen Theaterensemble bei – dem Zwischending zwischen einer Truppe reisender Schauspieler und einem Zirkus. In meiner manchmal zum Sentimentalen neigenden Art gefällt mir die Vorstellung, dass dieselbe Truppe vielleicht ein paar Jahre später wieder auftritt: in Erik Saties Ballett,
Parade
, das außerhalb eines Rummelplatzes spielt.
    Geboren im Jahre 1866 tauchte Satie in die Welt des
café-concert
, des
cabaret artistique
ein. 1911 , er war mittleren Alters, wurde Satie berühmt – als sich Ravel und Debussy für ihn einsetzten. Er wurde Teil der Pariser Avantgarde. 1916 fragte ihn Jean Cocteau, ob er nicht die Musik für ein Ballett mit dem Titel
Parade
schreiben wolle, das von Picasso gestaltet worden war und dessen erste Aufführung am 18 . Mai 1917 stattfinden würde.
    Der Titel
Parade
hebt auf die Bewegungen ab, die Akrobaten ausführen, um die Menschen dazu zu bewegen, auf den Rummelplatz zu kommen. In Cocteaus Handlung in der Endfassung sind die Menschen aber so von den drei Nebenvorstellungen begeistert, dass sie den Rummelpatz nie betreten. Die Nebenvorstellung, die mir am besten gefällt, ist die zweite:
La fille américaine
. Denn wieder einmal ist Amerika hier eine reine Erfindung. Was nicht weiter überraschend ist: Cocteaus Notizen, die er für Satie anfertigte, um diesem eine Vorstellung von Amerika zu geben, waren nicht sehr authentisch. Sie hatten alles: von »die
Titanic
« bis zu »die Sheriffstochter – Walt Whitman – die Stille bevor dann eine Kuhherde panisch durchgeht – Cowboys mit Chaps aus Leder und Ziegenfell – die Telegrafenbeamtin aus Los Angeles, die am Ende

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