Der multiple Roman (German Edition)
den Detektiv heiratet …« [568] Es waren die reinen Amerikana. Aber indem er dieser Kitschliste folgte, schuf Satie ein Stück, das – genau wie Kafkas Roman – die spielerische Übertragung eines vorherigen Werkes war. Diesmal entstand der neue Wert nicht durch die Übertragung eines kanonischen Werkes, sondern durch Saties allesfressende Verwendung des Populären, des Alltäglichen.
Das kleine amerikanische Mädchen in
Parade
tanzt zu einem Stück namens »Steamship Ragtime« – das eine Parodie beinhaltet, eine spielerische Abwandlung von Irving Berlins Hit aus dem Jahre 1911 , »That Mysterious Rag«. Satie nahm Berlins Melodie auseinander und kehrte die Reihenfolge von dessen Ragtime um, so dass Einleitung – Durchführung – Variation zu Variation – Durchführung – Einleitung wurde. Und er fügte seine eigene Chromatik und eigene Harmonien dazu, vor allem die für ihn charakteristischen Einheiten, die nicht länger als vier Takte waren. Es war ein Festival des Diebstahls. [569] »Wir dürfen nicht vergessen, was wir den Music Halls, dem Zirkus verdanken«, schrieb Satie. »Von dort stammen die neuesten Schöpfungen, Trends und Kuriositäten. Die Music Hall und der Zirkus besitzen den ›esprit nouveau‹.« [570] In Saties Partitur kamen Sirenen, das Geräusch von Flugzeugmotoren und eine manische Schreibmaschine vor. Das war Saties Amerika.
Weswegen es mich nicht wirklich überrascht, dass Adorno, als er Strawinsky für seine Kunst der Nachahmungen kritisierte, auch Satie angriff: »Aus dem Spezialistentum macht er die Spezialität von Music Hall, Varieté und Zirkus, wie sie in ›Parade‹ von Cocteau und Satie glorifiziert, aber schon in Petruschka vorgedacht ist. Die ästhetische Leistung wird vollends, wozu sie bereits im Impressionismus sich anschickte,
tour de force
…« [571] Es mag einem seltsam vorkommen, dass jemand deshalb angriffen wurde, weil er eine Tour de force geschaffen hatte – aber so war Adorno nun einmal. Adorno verstand Leichtigkeit nicht. In Los Angeles gestrandet, auf der verzweifelten Suche nach dem Mythos der Authentizität, dem Triumph des aufrichtigen Gefühls, verstand er nicht, wie man sich Amerika zunutze machen konnte.
6
1993 hielt sich der italienische Komponist Luciano Berio in Amerika auf, um die Charles-Eliot-Norton-Vorlesungen an der Harvard-Universität zu halten – eine Vorlesungsreihe, die einige Jahre zuvor auch von seinem Freund Italo Calvino (und viele Jahre zuvor von Strawinsky) gehalten wurde. Berio gab seinen Vorlesungen den Titel
Remembering the Future
– das stammte aus den letzten Zeilen von
Un re in ascolto
, einer Oper, die er über Shakespeares
The Tempest
geschrieben hatte, nach einer Idee von Calvino. Berio hatte die Oper 1981 begonnen – im selben Jahr, als Calvino einen Aufsatz über
Die Odyssee
mit dem Titel »Die Odysseen in der Odyssee« schrieb, in dem er darauf aufmerksam macht, wie oft die Odyssee in der
Odyssee
Gefahr läuft, vergessen zu werden: »Die Heimkehr muß erkannt und gedacht und erinnert werden: Es besteht die Gefahr, daß sie vergessen werden könnte, bevor sie geschehen ist.« [572] Und Calvino erinnert an eine Stelle in einem früheren Artikel, den er sechs Jahre zuvor über dasselbe Thema, »Die Zukunft vergessen«, geschrieben hatte: Die Erinnerung zähle nur dann wirklich, so sein Argument, sei nur wichtig, »wenn sie die Spur der Vergangenheit und den Plan der Zukunft zusammenhält, wenn sie es ermöglicht, ohne Vergessen das zu tun, was man tun wollte …« [573] Drei Jahre später fand die Uraufführung von Berios Oper in Salzburg statt. Eine Dekade später, in Harvard, sagte Berio, er wolle sich in seinen Vorlesungen auf »musikalische Erfahrungen« konzentrieren, »die uns dazu einladen, unser Verhältnis mit der Vergangenheit zu überdenken oder aufzulösen und als Teil eines zukünftigen Bewegungsablaufes wiederzuentdecken« – gelöst von einer linearen Ansicht der historischen Zeit. Sein Publikum solle »die Vorstellung von einer Geschichte akzeptieren, die uns erkundet, so dass es uns selbst, wieder und wieder, möglich wird, uns an die Zukunft zu erinnern.« [574]
Mit dieser paradoxen Umarbeitung unserer Vorstellung von der Geschichte im Hinterkopf wandte Berio sich Strawinsky zu, und dessen neoklassischer Partitur für Balanchines Ballett
Agon
: »ein bewundernswerter Akt von Exorzismus, wo die Vergangenheit weder als Vorzeit oder als Sammelobjekt behandelt wird und wo jeder
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