Der Musikversteher
Mitwirkenden, ihre »kollektive Disziplin«;
– jedes Instrument, jede Instrumenten-Gruppe ist ja nicht einfach nur eine »Klangfarbe«, sondern repräsentiert ein Bündel von Bedeutungen und Charakteren, die ihnen im Laufe der Kompositionsgeschichte zugekommen sind;
– einige kompositorische Unzulänglichkeiten, ja Dilettantismen,die im Rock- und Pop-Song unproblematisch sind oder sogar zur Unverwechselbarkeit beitragen, werden im »symphonischen« Kontext leicht zu Peinlichkeiten.
Eine echte Herausforderung fürs Arrangement!
Der ENGLISHMAN IN NEW YORK besingt einerseits einen realen britischen homosexuellen Exzentriker in New York, Quentin Crisp, geht aber andererseits über die konkrete »story« weit hinaus: Wie fühlt man sich als »legal alien«, legaler Außerirdischer? Was ist das Fremde trotz identischer Sprache? Was heißt »kulturelle Fremdheit«? Ich erinnere an das Kapitel »Musikalische Grenzen und Grenzüberschreitungen« (S. 84 ff.). Wie fremd sind sogar New Yorker in New York – wenn sie sich durch Bebop-Jazz als Außenseiter darstellen (wie in der Originalversion des Songs der Saxophonist Branford Marsalis)?
Die Klarinettistin (Intro ab 1’06’’) sorgt in der orchestralen Version – in h-Moll/äolisch – als Dialog-Partnerin von Sting sogar für jiddische Klezmer-Tonfälle (wiederum ein vertrautes Fremdes, in New York aber heimisch). In ihrem Solo (ab 3’14’’) werden sogar die Jazz-Elemente »klezmerisiert«: eine schöne, gelungene, gekonnte Grenzüberschreitung. Dass Stings Gesangsphrasen gern auf dissonierenden Tönen enden (meistens auf der None, bei h-Moll also z. B. auf cis 1 ), ist eine weitere individuelle Besonderheit dieses Songs.
Indem die Streicher den schlendernden Reggae-Rhythmus zupfen (pizzicato) , gelingt dem Arrangement eine überzeugende Verknüpfung einer »klassischen« Spiel- und Artikulationsweise mit einem vertrauten Element der Popmusik.
»Be yourself – no matter what they say«: Diese Sentenz des Textes trifft auf das – in diesem Falle sehr gelungene – Arrangement punktgenau zu.
Ludwig van Beethoven SCHERZO IX. SYMPHONIE (1822 bis 1824)
– http://www.youtube.com/watch?v=KtfrJoZX4cE&feature=related
Gern wird dieser zweite Satz aus der berühmten IX. Symphonie als »Scherzo« bezeichnet, obwohl Beethoven selbst ihn schlicht mit Molto vivace (sehr lebhaft) überschrieb. Die Tanzsätze in der Instrumentalmusik der Wiener Klassik – das sind in der Regel dritte von vier Sätzen in Symphonien und in Streichquartetten, meistens als Tanztypen wie »Menuett« oder »Ländler«. Schon Joseph Haydn verwandelte diese Sätze bisweilen in »Scherzi«, scherzhafte, launig-verspielte Tänze. In seinen 6 Streichquartetten op. 33 werden die Scherzi zu zweiten Sätzen – Vorbild auch für Ludwig van Beethovens IX. Symphonie. Beethoven aber etablierte den »dämonischen« Typus des Scherzo-Tanzsatzes, in dem mit Entsetzen »Scherz« getrieben wird: Es sind die »wüsten Verhältnisse« – so erlebte Beethoven seine Gegenwart –, die hier zum Tanzen gebracht werden. Der sehr rasche Dreiertakt in d-Moll bewirkt einen Taumel der Bewegung, der durch die Schläge der Solo-Pauken noch angetrieben wird.
Übrigens: Nicht nur die Ode an die Freude (4. Satz), sondern auch dieses »Scherzo« benutzte Stanley Kubrick in A Clockwork Orange als Filmmusik. Er nahm Beethovens Wort von den dargestellten »wüsten Verhältnissen« ernst. Der Filmschnitt folgt z. T. der Musik – ein »Markenzeichen« bei Kubrick.
Überall im Satz begegnen uns »Fugen«-Partien; sie nehmen aber eine Bedeutung an, die weit über eine abstrakte Imitationstechnik hinausgeht, wie sie die meisten ja aus dem »Kanon« kennen: Hier werden die Stimmen durch verschiedene Anführer (»Dux«) gleichsam »auf Vordermann« gebracht (nach der Signal-Introduktion ab 0’05’’), bis sie alle in ein Kollektiv-Delirium geraten (erstmals ab 0’25’’). Abwechselnde Drei- und Viertakt-Gruppen bringen noch zusätzliche Asymmetrien in diesen Taumel (z. B. ab 2’34’’).
Der Mittelteil dieses bitteren Scherzos (in der Tanztradition als »Trio« bezeichnet) ist jetzt in D-Dur und geradtaktig-leicht (2/2). Er lässt die »Freuden«-Thematik des Schluss-Satzes vorausahnen (Übergang ab 6’29’’) – ein Trost, der mit der Wiederaufnahmedes Scherzos erstirbt, aber dann, ganz am Schluss des Satzes, in einer kurzen Coda nochmals anklingt.
Der alte Sultan. Ein Dirigenten-Dirigentinnen-Märchen
Es
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