Der Musikversteher
sie schwindeln ließ – gleichwohl, wie sie so sanfte Sentenzen summte, da entglitten ihren Händen Büchlein und Pillenschachtel, plumpsten in die Plörre und versanken.
»Seltsame Fügung der Vorsehung«, versetzte die Verwirrte. Doch wer beschreibt ihre Freude, als sie der Tatsache gewahr wurde, dass nun ja jegliche Last von Fremdbestimmung von ihr gewichen war.
»ICH – HANNA«, so jubelte sie ein ums andere Mal, » NUR ICH, HANNA! HANNA IM GLÜCK! Und jetzt definiere ich mich völlig neu und fange ganz, ganz von vorn an!«
Als Hanna, eine mehr oder weniger junge Schlagersängerin, ihrem zweiten Manager sieben Jahre in Treue gedient hatte, da trat er eines Tages vor sie hin, und wenn sie nicht, noch heute.
»Meditationsmusik«
– http://www.youtube.com/watch?v=jWPt-o29Z10&feature=related
»Beruhigende Musik – Ruhige Musik mit Walgeräuschen für Entspannung, Stressabbau und Meditation« – das gibt es selbstverständlich nicht nur im prachtvollen Gebäude des Instituts für Totale Lebensbejahung auf psychobiologisch musisch-monetärer Grundlage, sondern auch, wie die Website-Überschriftzeigt, weit verbreitet im Internet. Wir vernehmen die Werbebotschaft, und was bekommen wir nach dem Anklicken der Musik außerdem zu hören?
Es ertönen synthetisch generierte Klänge, dazu noch miserabel gesampelte Instrumente, die wie Klarinette, Streicher, Flöte, Glockenspiel, seraphische Harfe klingen sollen. In diesen sacharinsüßen Grießbrei in »reinem« es-Moll einmontiert sind – wie sollte es anders sein – »Walgeräusche«. Diese Töne werden, wie wir alle wissen, nur darum von den possierlichen Säugern von sich gegeben, um uns in ein (in viel, sehr viel Hall verpacktes) Traumduseln zu versetzen. Wie hoch das Entzücken, wenn aus dem traumtiefen es-Moll bei 2’42’’ ein freundlich-tiefes Es-Dur wird, das die Gemüter vorübergehend heller werden lässt, um aber bei 3’20’’ wieder zurückzusinken in die synthetischen Traumtiefen. Da erwartet uns allerhand Blubbern, Zwitschern und Schnickschnack-Gluckern. Motto: Nichts ist so natürlich wie das starre maschinelle Vibrato einer schlecht digitalisierten Solo-Violine!
Das erinnert an Andersens Märchen von der Nachtigall (das Igor Strawinsky zu einem sehr berührenden Ballett umgeformt hat). Gegenwärtig heißt das: Nichts in der Natur ist so intensiv knallbunt wie die Plastikwelt, und nichts in der knallbunten Plastikwelt ist so superknallbunt wie die virtuelle Plastikwelt. Aber: Wenn uns, mit diesem unserem virtuellen Erfahrungshintergrund, in der Natur intensiv farbige Korallen, Fische, Vögel begegnen, wenn wir wunderbar modulierende Amseln hören, dann werden wir misstrauisch. Und der zauberhafte nächtliche Gesang der Nachtigall ( nicht des künstlichen Vogels): Das ist eine romantische Hör-Projektion unsererseits. In Wirklichkeit singen diese Männchen ziemlich einfältig, und der Zweck dieses Singens ist: Abstecken des eigenen Reviers und Anlocken der holden Weiblichkeit. Auch Andersens chinesischer Kaiser wurde vom Bewunderer der Künstlichkeit zum naturverklärenden Romantiker, aber, immerhin: Das hat ihn geheilt .
Zurück in die Gegenwart. Es lebe die künstliche, die knallbunte,die Plastik-Natur! Meditatiefsinn aus dem digitalen Musikbaukasten! Und solange die Kundschaft daran glaubt, ist das in Ordnung, denn auch Placebos können heilen. Die Aufforderungs-Phalanx des Links (anzuklicken bei »Weitere anzeigen«) enthüllt den kommerziellen Sinn der Botschaft ungeniert.
Michelle: DEIN PÜPPCHEN TANZT NICHT MEHR (1998)
– http://www.youtube.com/watch?v=orZBTuAgikw
Michelle ist der Prototyp einer Hanna im Glück aus der Schlagerbranche: schwer ausgenutzt, ja missbraucht von einer ganzen Männer-Riege, nicht nur aus der Branche; trotz aller Erfolge unfähig, sich gegen die Bevormundungen und Übervorteilungen zu wehren.
Bei DEIN PÜPPCHEN TANZT NICHT MEHR hören wir, immerhin, eine künstlerische Auseinandersetzung mit dieser Situation. Musik, Text, Producing stammen aus einer professionellen Hand: Jean Frankfurter, den wir schon bei MICHAELA kennengelernt hatten. Die »Püppchen«-Mischung aus Pop, Schlager, Disco-Elementen (Violin-Figurationen!), Funk-Rhythmen setzt Frankfurter auf ähnliche Weise in seinen Stücken für die derzeit erfolgreichste deutsche Schlagersängerin ein, für die absolut professionelle Helene Fischer. Auch die Tonart von »Püppchen«, das eigentlich absurd komplizierte es-Moll/Äolisch (hier in
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