Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
Vom Netzwerk:
nicht die musikalische Umgebung wäre, besonders die Kommentare der Bläser; nach dem zweiten Kommentar kommt auch in die Melodie und in die Harmonik Bewegung.
    ALL YOU NEED IS LOVE endet mit einer Coda (ab 2’29’’) und mit einem sehr, sehr langen fade out. Und das alles ist ein wunderbares Beispiel für musikalische Collagetechnik. Ich kann mir vorstellen, wie ein Brainstorming mit den Beatles und George Martin ausgesehen haben könnte: Was von all dem, was wir kennen und lieben, können wir in diese Collage einfügen? Und da hören wir dann eine Vereinigung von Pop, Jazz, sogenannter Klassik, Volkslied und Selbstzitaten der Beatles. Die Trompeten spielen J. S. Bachs Invention in F-Dur, die Saxophone Glenn Millers »In the mood«, dann erklingt das altenglische Lied »Greensleeves«, und kurz vor Ende ist »She loves you, yeah, yeah, yeah« zu hören.
    ALL YOU NEED IS LOVE – und die Liebe zur Musik gehört essentiell dazu.
Körpermetaphorik beim Hören und Verstehen von Musik
    Kurzanalysen: Igor Strawinsky aus Le sacre du printemps der SACRIFICIAL DANCE, TANZ DER AUSERWÄHLTEN; ABBA WATERLOO; Nicole EIN BISSCHEN FRIEDEN; Gustav Holst MARS aus der Suite » Die Planeten«; No Angels DISAPPEAR; Udo Jürgens MERCI, CHÉRIE; Arnold Schönberg BEGLEITMUSIK ZU EINER LICHTSPIELSZENE; Nick Cave/Kylie Minogue WHERE THE WILD ROSES GROW; Arnold Schönberg aus Pierrot lunaire DIE NACHT; Max Steiner KING KONG; Maurice Ravel BOLERO
    Ich möchte mit einer nur scheinbar sehr dummen Frage beginnen. Was hat das Ohr mit dem zu tun, was wir als »musikalisches Hören« bezeichnen? Es liefert die akustischen und die physiologischen Voraussetzungen für einen sehr komplexen, kognitiven wie emotiven Verstehensprozess, für den der Begriff »Hören« nur eine Metapher ist. Wenn mir ein Kompositionsstudent sagt, »An dieser Stelle hat mein Ohr entschieden« oder »Das habe ich lange ausgehört«, dann ist das eine kokette metaphorische Verkürzung. Er (oder sie) meint eigentlich »da sind mein gesamtes gespeichertes Wissen und meine gesamte künstlerische und sinnliche Erfahrung in einen Austausch geraten und haben sich für eine Version entschieden, von der ich – wohl unbewusst – annehme, dass sie originell ist. Und ich hoffe inständig, dass nicht schon Dutzenden vor mir Ähnliches eingefallen ist.«
    Ich selber kann (wie jeder Mensch jeden Alters) problemlos vier Fremdsprachen gleichzeitig hören. Ob ich irgend etwas verstehe, ist eine ganz andere Frage. Auch wenn man beim Musikhören bisweilen das Gefühl hat (z. B. bei sehr lautem Heavy Metal), dass hier das Ohr und das vegetative Nervensystem gleichzeitig überrannt werden – der Ort des Rezipierens, des Genießens, der Abscheu, der Gleichgültigkeit ist das Gehirn. Als Ludwig van Beethovens Bruder Johann ein Landgut erworben hatte, unterschrieb er stolz einen Brief an Ludwig: Johann van Beethoven, Gutsbesitzer. Ludwig setzte unter die Antwort: Ludwig van Beethoven, Hirnbesitzer.
    Das sollte auch dem deutschen Mainstream-Pop, bei dem ja das Brett vorm Kopf durch Bohlen ersetzt wurde, zu denken geben – falls das überhaupt möglich ist. Erweisen wir uns also auch in der Musik, allen Castingshows zum Trotze, als Hirnbesitzer. Und ich verspreche: Das Fühlen wird viel schöner und das Hassen wird viel befriedigender.
    Hörend verfolgen, wie sich Musik in der Zeit entfaltet: das hat immer starke sinnliche Erlebnisqualitäten. »Erlebnishören« ist die Grundlage für jedes Musikhören. Doch bei jedem »Erlebnishören« muss klar sein, dass sich die chronometrisch exaktmessbare Zeit von der Erlebniszeit unterscheidet. Es gibt Musik, die »wie im Fluge« vergeht, und solche, die sich zäh dahinzieht. Igor Strawinsky unterschied ja, wie schon im Kapitel »Is It Rhythm?« angeführt, in seiner Musikalischen Poetik zwischen ontologischer und psychologischer Zeit in der Musik; diese beiden Möglichkeiten von »Zeit« sind wesentlich durch verschiedene Abstufungen von Ereignisdichte bestimmt und dadurch, wie stark das erlebende Subjekt in die Emotionen der Musik verwickelt ist.
    Aber, so widerspreche ich jetzt mir selbst, es gibt doch eine Geheimwissenschaft, die nur noch wenige Eingeweihte beherrschen, die heißt Notenlesen. Ja, die gibt es, und es gibt auch das Phänomen des Notentextes, und zu diesem könnte man sich durchaus verhalten wie zu einem sprachlichen Text. Aber all das, was die Erlebnisqualitäten von Musik ausmacht, stellt sich dabei entweder erst gar nicht ein

Weitere Kostenlose Bücher