Der Musikversteher
sie hingestellt. Da musste sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.« Zitat und Märchen Ende. Heutzutage genügen da bei Ravern schon zwei Ekstasy-Pillen zu viel.
Wie Musik »in die Beine fahren« kann, möchte ich an einem heute noch sehr bekannten Grand-Prix-Siegertitel demonstrieren: ABBA, WATERLOO.
Mit ABBA ist 1974 ein ganz frischer Wind in den Grand Prix d’Eurovision gekommen. Natürlich trug auch das äußere Erscheinungsbild dazu bei; viel wichtiger aber: Sie verzichteten auf Kitsch, auf Sentimentalität und auf falsches Glücksversprechen. Sie haben also eigentlich auf alles verzichtet, was den schlechten Normalschlager ausmacht. WATERLOO ist auf Elementen des raschen Rhythm’n’Blues aufgebaut und auf dem Rock ’n’ Roll. Wir hören einen sogenannten »ternären Rhythmus« (vgl. den entsprechenden Abschnitt im Rhythmus-Kapitel S. 76), und die melodischen Akzente kommen auf den sogenannten Offbeats, also kurz vor den Pulsen des Beats. Binäre Achtel on-beat wirken in ihrer Bravheit unfreiwillig komisch.
Wir können also festhalten: Kleine kompositorische Maßnahmen wie ternäre Rhythmik und Offbeats lassen uns Musik »in die Beine fahren«; aber selbstverständlich gehört auch das Tempo dazu; der identische Rhythmus im halben Tempo würde in eine erzählende, vielleicht sogar traurige Blues-Ballade gehören. Probieren Sie es aus!
Benny Anderson, der Komponist von ABBA, nannte als Vorbilder Elvis, die Beatles; aber auch Mozart und Verdi. Das kann man gut nachvollziehen, denn gerade die Melodik ist immer sehr einprägsam und gleichzeitig gekonnt: Die Offbeat-Töne sind gleichzeitig dadurch noch besonders betont, dass sie »akkordfremde Töne« sind, dissonierende Vorhalte zu Akkordtönen.Der Text macht übrigens richtig Spaß: Waterloo – das ist der Ort von Napoleons entscheidender Niederlage. Auch hier erlebt jemand sein Waterloo – im Liebeskrieg. Aber das ist eine sehr angenehme Niederlage.
Das waren Füße und Beine; ich überspringe jetzt mal die Möglichkeiten des musikalischen Schenkelklopfens und komme zum zentralen »Bauch«.
Musik »kommt aus dem Bauch«, oder sie ist »für den Bauch«
Erstaunlicherweise steht also der Gesamtverdauungstrakt für die ungetrübte Unmittelbarkeit beim Musikmachen wie beim Musikhören. Das muss man erst mal verdauen. Der »Bauch« ist ebenso eine Metapher für gesamtkörperliches Empfinden, auch für physiologische und sensorische Reiz- und Reaktionsmuster (ja, als Musikhörer verhalten wir uns oft wie die Pawlow’schen Hunde!). »Bauch« heißt: Affekte, Gefühle, aber noch nicht besonders differenziert. Im Genre Schlager, aber auch in der Punkmusik wird – auf unterschiedliche Weise – sehr gern das »Bauchgefühl« aktiviert.
Schönes Beispiel: eine deutsche Nummer eins beim Grand Prix! Ja, das hat’s auch vor Lena schon gegeben: Nicole, EIN BISSCHEN FRIEDEN – hier wird vom Autor Ralph Siegel ein großes Anliegen auf kleinster musikalischer Flamme geköchelt. Dieser große Erfolg von 1982 wäre nicht vorstellbar ohne den damaligen Höhepunkt der Friedensbewegung gegen die Nachrüstung – und das war ein gesamteuropäisches Phänomen, das auch ein zartes Pflänzchen im damaligen Ostblock hatte. Das Motto lautete hier: Schwerter zu Pflugscharen. Bei Nicole/ Siegel hören wir die Banalität von harfenumrauschten Stube-Küche-Streicher-Harmonien; im Refrain der allbekannte Habanera-Rhythmus, immerhin mit leichten Offbeats (vgl. die Habanera aus Georges Bizets Carmen ):
Das alles erfüllte in der Hochzeit der Friedensbewegung Anfang der achtziger Jahre die meisten Gemüter mit der Gewissheit, mit den richtigen Gefühlen auf der richtigen Seite zu sein – wogegen grundsätzlich ja nichts einzuwenden wäre, wenn das Lied nicht ein bisschen zu sehr (inhaltlich wie musikalisch) auf dumpfes Einverständnis und auf Klischee-Erfüllung zielen würde.
Böse formuliert: Die Zeile »und hoffe, dass nichts geschieht« geht, zumindest in der Musik, in Erfüllung. Die noch sehr junge Nicole verkörperte mit ihrer Gitarre das Authentische mit dem Unschuldsbonus, der aus dem Kitsch-Produkt des Hauses Ralph Siegel/Bernd Meinunger ein Erfolgsstück machte.
– http://www.youtube.com/watch?v=lVdxwDT2ohY
Es gibt eine grundsätzliche Voraussetzung für den Erfolg von populärer Musik. Die ist bei allen Grand-Prix-Titeln, um die es hier geht, erfüllt – bis auf die No Angels: Es muss neu und
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