Der Musikversteher
ans Vertraute anknüpfend. Aber das ist gleichzeitig ziemlich raffiniert gemacht. Wir haben ein langsames, sehr getragenes Grundtempo. Dieser Beat ist aber so gegliedert, dass es gleichzeitig ein langsamer Blues und ein Wiener Walzer ist (Udo hat bekanntlich für Österreich gewonnen). Charakteristisch auch die langen Pausen in der Melodie – normalerweise tut man so etwas im Schlager nicht. Wenn Sie das nicht singen, sondern sprechen würden, wäre die Grenze zum Schwachsinn überschritten. Und der von Kitsch triefende Text wäre unbarmherzig offengelegt.
Adieu (Pause) adieu (Pause) adieu (Pause) deine Tränen tun weh (Pause) so weh (Pause) so weh (Pause)
Aber: das ist, gesungen, völlig unverwechselbar, individuell und ungeheuer einprägsam! Die Pausen werden durch Walzer-Figurationen ausgefüllt. Und dann gibt es im Orchester noch eine kleine rhythmische Anschärfung.
Die Strophe (0’–1’07’’) beruht in schöner Eindeutigkeit auf Franz Schuberts G-Dur-Fantasiesonate op. 78, die Udo Jürgens während seiner Klavierstudien sicherlich gespielt hat.
Das ist aber keinesfalls als »Diebstahl« zu werten, sondern hat den Charakter einer freien Allusion. Der Höhepunkt desLiedes lautet: »Kein Meer ist so wild wie die Liebe«; und da wird allen Ernstes Richard Wagners TANNHÄUSER-OUVERTÜRE (1845) bemüht, nicht ganz wörtlich, aber ebenfalls als Allusion, also als »anspielende Anverwandlung«. Udo in F-Dur, Richard E-Dur, Tempo etwa identisch, ebenso die Ausfüllung der Beats, der Zählzeiten mit triolischen Dreiergruppen, melodisch die stark betonte Auftakts-Quarte (wie die/Lie – be), und eindeutig die abwärts wallende Geigen-Figuration mit den Tonrepetitionen (– díja, díja, díja, díja, díja).
Stockender Atem
Dass bei bestimmter Musik der Atem stocken kann, das hat wohl jeder schon einmal erlebt. Am heftigsten können atemberaubende Schockwirkungen in der Musik zu Horrorfilmen sein, besonders, wenn sich in trügerische, befremdliche Schönheit das Grauen einmischt. Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe – das realisierte Arnold Schönberg 1930 in seiner BEGLEITMUSIK ZU EINER LICHTSPIELSZENE, die aber komponiert wurde, ohne auf einen konkreten Film bezogen zu sein. Die von außen drohenden Gefahren, die Angstreaktionen, Katastrophisches, das Grauen – das alles ist hier »als solches« zu erfahren, und Bilder, Szenen, Dramaturgien müssen imaginiert werden. Der hohe Allgemeinheitsgrad der musikalischen Bedeutungen könnte viele filmische Realisierungen ermöglichen; Der Brandstifter von Uetz Stockloew mit seiner vom expressionistischen Stummfilm geprägten Ästhetik ist ein durchaus gelungenes Beispiel. Apropos Angst: keine Angst vor Dissonanzen in der »Zwölftontechnik«, wenn sie (wie hier) plausibel eingesetzt sind!
– http://www.youtube.com/watch?v=JEh_9hQP2eI
Zwischenbilanz. Musik fährt in die Füße und Beine, kommt aus’m oder ist für’n Bauch, geht an die Nieren, schlägt auf den Magen oder geht auf die Eier, ist für’n Arsch, geht zu Herzen, lässt den Atem stocken. Aber weiter:
Musik bleibt schon auch mal im Hals stecken
Als berüchtigter Kloß in eben demselben, verbunden mit Schluckenmüssen als Betroffenheitsreaktion, zum Beispiel bei WHERE THE WILD ROSES GROW von Nick Cave/Kylie Minogue (1996)
– http://www.youtube.com/watch?v=MhI23leyByw ).
Eine bittersüß-melancholische australische Kooperation von Nick Cave und Kylie Minogue mit schaurigem Ende. Wir hören eine irisch inspirierte Ballade in g-Moll, beginnend mit trügerisch sanften Streicherklängen. Dunkle Balladen in g-Moll haben übrigens auch Chopin und Brahms für Klavier komponiert. Was ist hier aber typisch irisch? Der Takt/Rhythmus (ein wiegender 6/8-Takt mit Raffinessen) und die Melodik (Pentatonik, aber – wegen der inhaltlichen Aussage – nicht Dur-, sondern Moll-Pentatonik).
Worum geht es? Das Bild Frau = Wildrose gibt’s ja z. B. auch bei Goethe im »Heidenröslein«, und da ist wie in unserer Ballade zunächst einmal die Defloration symbolisiert, aber anders als bei Goethe wird hier alles viel schlimmer und endet mit einemMord. Im Video erscheint Kylie als attraktive Wasserleiche. Die letzte Strophe ist dann die Kata-Strophe. Die Heldin wird stilgerecht und naturbelassen mit einem Stein erschlagen. Er verbrämt seinen Mord mit einem sehr gebildeten Zitat und singt »all beauty must die«- ein altgriechischer Topos, den es auch bei Shakespeare und bei Keats gibt, und bei Friedrich
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