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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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unverbraucht klingen, es darf aber nicht wirklich neu sein, höchstens in ganz geringer Dosierung. Die Erfolgsformel lautetja: das Bekannte im Gewande des Neuen. Man braucht fürs Hören die festen, vetrauten Anknüpfungspunkte, aber sie müssen mit einem besonderen Kick, mit einem unverwechselbaren Pfiff inszeniert sein.
Zum Verdauungstrakt gehören die Nieren
    Wenn Musik »an die Nieren geht«, dann hinterlässt sie ein schmerzliches Ziehen, wie z. B. bei dargestellter Brutalität. Es gibt eine »Mutter aller Filmmusiken«, die gar keine Filmmusik ist: das ist die Suite für großes Orchester DIE PLANETEN des Engländers Gustav Holst, komponiert im Ersten Weltkrieg, 1917. Diese Planeten mit ihren römischen Götternamen sind astronomische und symbolisch-astrologische Phänomene gleichermaßen. Und da stellt der erste Satz MARS, BRINGER DES KRIEGES die brutalen Schrecken und Desaster des Krieges dar, wie sie in den Schützengräben Flanderns und Frankreichs 1917 auf grausamste Weise Realität geworden waren.
    Ich bin bewusst gemein: Nach »Ein bisschen Frieden« also jetzt »Ein bisschen Krieg«, ein Stahlgewitter im stampfenden 5/4-Takt-Ostinato. Das wird planmäßig mit dem »teuflischen« Intervall des Tritonus, dem »diabolus in musica«, also dem Teufel in der Musik in stetigem Crescendo in Katastrophen geführt. Polytonale Kopplungen (verschiedene Tonarten gleichzeitig) als ein wichtiges Mittel der Musik des 20. Jahrhunderts lassen mit schneidenden Dissonanzen die Brutalitäten hörbar werden.
    – http://www.youtube.com/watch?v=AGGlL1wexQk&feature=related
Etwas höher schlägt Musik gern »auf den Magen«
    Die Kids siedeln dieses Gefühl des Missbehagens mit Totalablehnung etwas weiter vorn an: Ihnen geht das »auf die Eier« . So ist es übrigens auch mir gegangen beim deutschen Grand-Prix-Beitragvon den No Angels: DISAPPEAR (2008, http://www.youtube.com/watch?v=vPRpkAlLegY ).
    Der Beginn des Refrains (bei 0’40’’) ist nichts weiter als billig und hastig zusammengeschusterter Mainstream-Uffta-Uffta-Pop, ohne auch nur den Hauch von Individualität oder wenigstens den Schein des Neuen. Was macht man im Refrain mit einem kleinen, netten Einfall in A-Dur wie diesem?

    Man wiederholt ihn – und wiederholt ihn – und wiederholt ihn mit Winzvariante – und dann wiederholt man ihn – und wiederholt ihn … das nennt man einen Einfall zu Tode reiten. Die mehrstimmigen Chorsätze sind dilettantisch gesetzt, leider auch dilettantisch gesungen. Trotzdem würde ich sagen: Die No Angels sind ein Opfer der Macher und der Produzenten geworden. Aber der Titel war ja prophetisch: disappear – weg vom Fenster.
    Und so ist Musik oft »für’n Arsch«. Das kann einerseits wortwörtlich genommen werden – sie taugt also nichts. Von daher schlug DISAPPEAR einerseits auf den Magen, war aber andererseits auch für’n Arsch. Das kann aber auch ein ironisches Spiel sein wie im Song von Jan Delay und Udo Lindenberg: IM ARSCH. Diese Analyse aber sparen wir uns für den zweiten Teil dieses Buches auf (S. 218).
»Von Herzen – möge es wieder zu Herzen gehen«
    Das schrieb Ludwig van Beethoven als Motto über seine Missa solemnis . Zu erleben sind Primäraffekte wie Schmerz, Freude, Trauer, Gelassenheit – Musik als die »Gefühlssprache des Herzens« bewegt uns seit dem späteren 18. Jahrhundert nahezu ungebrochen bis heute. Den Herzschmerz des affectus amoris haben wir schon bei den Beatles mit MICHELLE kennen gelernt. Doch die Forderung der Wiener Klassiker war es, dass in diese Gefühlswelt immer auch der Verstand, die Vernunft und derEthos-Charakter von Musik verwoben sein müssen, also die gesellschaftliche Verantwortlichkeit der Kunst. Udo Jürgens hat mit MERCI, CHÉRIE ja durchaus einen zu Herzen gehenden Grand-Prix-Siegertitel geschrieben, aber auch der Ethos-Charakter von Musik war und ist ihm nicht fremd, wie Titel wie »Ein ehrenwertes Haus« oder »Lieb Vaterland magst ruhig sein, die Reichen zäunen ihren Reichtum ein« demonstrieren.
    Udo Jürgens ist ein professionell ausgebildeter Könner – er ist mit allen Wassern der Popmusik, des Jazz, des Chansons, des Musicals, aber auch der »E-Musik« und natürlich des Schlagers gewaschen. MERCI, CHÉRIE ist von 1966 ( http://www.youtube.com/watch?v=1iaROib5Wb0 ). Wenn man es oberflächlich hört, könnte man meinen: Okay, Liebesschnulze, der Herzensbrecher am Klavier, die Streicher schluchzen mit. Also, auf der einen Seite durchaus Klischee-Erfüllung,

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