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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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oder muss – sehr mühsam – imaginiert werden. In der Regel gelingt das, auch Fachleuten, nicht. Immerhin gebe ich zu, dass im Zeitalter raffiniertester digitaler Reproduzierbarkeit bestimmte musikalische Ereignisse punktgenau angefahren und beliebig oft wiederholt werden können.
    Ob und warum uns Musik gefällt, und auch, wie wir sie hören, hat natürlich mit der Musik zu tun, aber ebenso mit ihrer gesellschaftlichen und marktgesteuerten Inszenierung. Und eine solche Inszenierung ist unabhängig vom musikalischen Genre. Der alte Scherz dazu: Warum liest das Publikum Konzertkritiken? Um zu wissen, ob es ihm gefallen hat. Und was bitte soll ihm gefallen oder nicht gefallen haben? Als die BILD-Zeitung nach ihrer Grand-Prix-Pleite über die No Angels herfiel, war vor allem die Rede davon, ob das Outfit scharf genug war oder die Choreografie geil genug; kritisiert wurde, immerhin, auch die unzulängliche Gesangsleistung. Darüber aber, dass das Stück musikalisch »unter aller Sau« war, redete niemand – da fehlen einfach die Kriterien. (Ich werde später noch auf das Stück eingehen.)
    »Erlebnishören« ist in der Regel auf der Ebene der unmittelbaren sinnlichen Anschauung angesiedelt. Ich erlebe und verstehe grundlegende Emotionen und Charaktere einer Musik aus meinem kulturellen Umfeld unmittelbar (körpermetaphorisch bin ich mit dem Herzen dabei), oder ich fahre voll drauf ab, so ganz aus dem Bauch heraus, aber ich verstehe sie – später – besser, wenn ich mehr über sie weiß, also den Kopf aktiviere. Ein kleines Beispiel aus dem Bereich des Rhythmus, dessen Offbeat auf dem zweiten Viertel des zweiten Taktes für Individualität sorgt:

    Wie langweilig wäre es, wenn im zweiten Takt der erste schlicht wiederholt würde. Wenn ich einen Fußballstadion-Rhythmus wie diesen nachklatschen kann, dann weiß ich noch lange nicht, wie er strukturiert ist; aber umgekehrt, wenn ich besagten Rhythmus »rastern« und kognitiv nachvollziehen, ja aufschreiben kann, heißt das nicht unbedingt, dass ich die sinnlichen Qualitäten dieses Rhythmus erfasst habe – körpermetaphorisch gesprochen: Eine verkopfte Rezeption garantiert nicht einen verbauchten Groove.
    Selbstverständlich muss man sich immer wieder klarmachen: Auch diese körperlichen Zuordnungen sind Metaphern. Musik geht selbstverständlich zuerst ins Gehirn mit all seinen sinnlichen und kognitiven Vermögen. Aber das Gehirn leitet die verarbeiteten musikalischen Informationen schon an die richtigen Stellen im Körper weiter. Im Sprechen über Musik mit Körpermetaphern ist der reale musikalische Erlebnis- und Erfahrungsschatz der Menschen von Jahrhunderten, ja Jahrtausenden verborgen. Körpermetaphorisches Sprechen über Musik kennt jede Kultur unserer Erde.
    Ich gehe jetzt systematisch von unten nach oben.
Musik »fährt in die Füße« (bzw. in die Beine)
    Das kann sehr, sehr heftig sein: die »Auserwählte« in Igor Strawinskys LE SACRE DU PRINTEMPS (»Das Frühlingsopfer« von 1913 – viele haben das Werk kennengelernt im schon erwähnten Film Rhythm Is It ) tanzt sich im schamanischen heidnischen Russland zu Tode, um die Erde zu versöhnen. Der SACRIFICIAL DANCE steht ganz am Ende dieses Balletts.
    Dieser Todestanz der Auserwählten hat Taktwechsel mit schroffen Akzenten, wie sie bis dahin in der Musik »unerhört« waren. Theodor W. Adorno sprach in seiner Philosophie der neuen Musik (1948) von »konvulsivischen […] Stößen, Schocks«, von denen Orchester, Dirigent, Tänzerin und Publikum gleichermaßen heimgesucht werden. 26
    Die komplexen Rhythmen erschrecken: 3/16, 2/16, 2X 3/16, 2/8 usw. Sie sind gleichzeitig getragen von einer Ästhetik des  Schreis: Barbarische Dissonanzen, Tonflecken werden hinausgeschleudert. Was man als anarchisches Chaos empfinden könnte, ist aber vom Komponisten sehr genau durchkalkuliert.
    Wir hören in den Schlusstanz (0’– 0’53’’) hinein, mit Abbruch, Erstarrung, Signalen der Posaunen und Trompeten, Paukenschlägen:
    – http://www.youtube.com/watch?v=BiH3vA7q0jo .
    Ein gar nicht so nettes Märchen wie »Schneewittchen« endet folgendermaßen: »Die böse Stiefmutter wollte zuerst gar nicht auf die Hochzeit kommen, aber es ließ ihr keine Ruhe. Und wie sie hineintrat, erkannte sie Schneewittchen, und vor Angst und Schrecken stand sie da und konnte sich nicht regen.« Schockstarre. Und nun? »Aber es waren schon eiserne Pantoffeln über Kohlefeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor

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