Der Musikversteher
Rosenberg) – wir wollen dran glauben, ob Macher oder Hörer, ob Hetero, Homo, Metro; und von der Illusion lebt eine ganze Branche. Irgendwann werden die, die dran glauben wollen, dran glauben müssen, und wenn es die Macher selbst sind. Solche Schicksale häufen sich.
Basis für den Liebeskitsch ist häufig ein auf den Hund gekommener Begriff von »Romantik«. Romantik – das ist die paradoxe Sehnsucht nach einer Ferne (historisch, geografisch, kulturell, zwischenmenschlich), in die Wunschvorstellungen, ja Utopien projiziert werden können. Aber: diese Ferne muss ganz nahe sein.
Und zum Abziehbild wird das dann endgültig, wenn sich der Kommerz der Romantik annimmt und beispielsweise der großartige »Melancholie«-Begriff in die Fänge Hollywoods oder der Schlagerfabrikation gerät und »romantisiert« wird: sentimentalisiert und banalisiert zu melancholy baby .
Zu Liebeskitsch und Kunstkitsch gesellen sich auch Politkitsch, Nationalkitsch und Religionskitsch – sie alle sind nahe Verwandte, und sie alle existieren auch in der Musik. Schon 1930 hatte Kurt Tucholsky in seinem Gedicht Zuckerbrot und Peitsche 32 den Kitsch mit seinen Fluchtmechanismen beschrieben:
Nun senkt sich auf die Fluren nieder / der süße Kitsch mit Zucker-Ei.
(…)
Sie wollen sich mit Kunst betäuben, / sie wollen nur noch Märchen sehn;
sie wollen ihre Welt zerstäuben / und neben der Epoche gehn.
(…)
Das ist Neudeutschlands grüne Frucht: / Flucht, Flucht, Flucht.
Hanns Eisler hat diesen Text als Chanson vertont:
– http://www.youtube.com/watch?v=iRs08ohfyLY .
Aber es gibt auch den Sozialkitsch . Und das kann in der Musik mit einer Stimme geschehen, die früher einmal Rebellion versprochen hatte – mit der schönen Gewissheit, dieses Versprechen niemals einlösen zu müssen: Zum Beispiel Elvis Presley, IN THE GHETTO (1969).
Es existieren verschiedene Aufnahmen dieses Songs; sie können den Kitsch durch die Arrangements entweder verstärken (tränengetränkte Heulchöre, Orchester mit dick aufstreichenden Streichern) oder dämpfen – wozu auch ein rascheres Tempo beitragen kann. Am grundlegenden Widerspruch aber ist nicht zu deuteln: Die besänftigenden Dur-Harmonien und die harmlos-nette Melodie stehen in krassem Kontrast zum geschilderten Konflikt. Der Konflikt wird musikalisch nicht ernst genommen, sondern verzuckert. Was wird hier suggeriert, besonders in den kommentierenden Heulchören? Mitleid auf die herablassende Weise: Ach, die Armen (Gott sei Dank gehören wir nicht dazu); Hauptsache, sie wird gekauft, diese Schmonzette. Und trotzdem wird, wie in der Werbung, ein richtiges und wichtiges Bedürfnisartikuliert. Dennoch überschreitet die Jesus-Gleichheit dieses Ghetto-Kindes mit der verheerenden Sozialprognose die musikalische (und auch die textliche) Kitschkante mühelos. Im Angesicht des armen Bittstellers sprach der Reiche zu seinem Diener: Schmeiß ihn raus, Johann, er bricht mir das Herz.
Zum Trost: Eine nur gitarrenbegleitete Version wie die folgende ist so angenehm zurückhaltend, dass der immer noch vorhandene Kitschfaktor fast vergessbar ist.
– http://www.youtube.com/watch?v=IW32tJvLZ6A&feature=related
Intermezzo: Es gibt auch zusammengesetzte Adjektive und Adverbien mit »dumm«, die charakteristisch im gegenwärtigen Musikbetrieb verwendet werden können, so dummdreist, etwa, wenn Geschäftstüchtigkeit, Verstoß gegen das Urheberrecht (z. B. durch Sampling) und musikalisch-handwerkliche Unzulänglichkeit zu einer Einheit zusammenwachsen. Aus juristischen Gründen nenne ich den Namen des Rappers nicht; aber schön ist es, nicht nur sprachlich, wenn ein diebischer Rapper berappen muss. Dummgut, das sind im richtigen Leben z. B. deutsche Schlagersängerinnen wie Michelle, die gern Opfer von Produzenten, von Managern und sich selbst werden (vgl. das Märchen »Hanna im Glück«, S. 268).
Dargestellte »Einfältigkeit« kann aber auch sehr anrührend sein, besonders, wenn sie so großartig künstlerisch umgesetzt ist wie bei den Beatles in THE FOOL ON THE HILL (1967).
– http://www.youtube.com/watch?v=3XeBjWBEkmE&feature=fvsr
Wunderbar paradox: Hier verbindet sich armes Theater mit musikalischem Reichtum zu einem grandiosen Arrangement – schon diese eigentlich doch armseligen Flöten, diese rührend quäkende Blockflöte, diese Bass-Mundharmonika. Und das alles mit einer Melodie, in der eine eingängige Sanglichkeit sehr kunstvoll ausgesponnen wird, mit einer Harmonik, in der – wiein
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