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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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Air von Bach) eine allgemeine Teilhabe an musikalischer Sprache, an ihren Vokabeln, ihrer Syntax, ihren Topoi. Für diese drei Kategorien möchte ich jetzt vertiefend noch ganz andere Beispiele anführen.
    Quiz: Wer besucht hier wen, wie und warum überhaupt? Ashcrofts A SONG FOR THE LOVERS (2000, http://www.youtube.com/watch?v=oqQBo-cD5gI ) Es barockisiert heftig. Gerade die Streicher-Idiomatik, unter die sich dann allmählich das Rockinstrumentarium schiebt, setzt ein hochbarockes Ausrufezeichen, ohne aber konkretes Zitat zu sein. Viel wichtiger aber für den Song ist ein strukturelles Element aus der Musikgeschichte. Ashcroft schreibt eine Passacaglia, also die permanente Wiederholung eines Bassmodells, über dem immer neue Variationen entstehen. Es ist der sehr charakteristische »diatonische Lamentobass«, ein sogenanntes »phrygisches Tetrachord« abwärts, schon im 15. Jahrhundert musikalisches Zeichen von Leid und Trauer. Und so ist es auch in den Flamenco eingewandert. Bei Ashcroft wandert die Linie z. T. auch in höhere Stimmen. Sie alle können diese Lamento-Linie mitsingen – immer und immer wieder: a – g – f – e (vgl. Notenbeispiel 6, S. 59), hier jeder Ton ein Takt, also vier Viertel lang ausgehalten. Ashcrofts Kunst besteht darin, ein Immergleiches dennoch in immer wieder anderen Varianten erscheinen zu lassen. Mit dieser »Passacaglia«-Kunstfertigkeit hat er natürlich zahlreiche grandiose Vorbilder.
    Und jetzt soll wenigstens auf ein sehr berühmtes Referenz-Stück gleicher Machart und vergleichbarer Aussage aus demFrühbarock verwiesen werden (zufällig hat es auch die gleiche Tonart): Claudio Monteverdis LAMENTO DELLA NINFA, der sehr anrührende Klagegesang der vom Geliebten verlassenen Nymphe, der sich als Variationssatz über genau diesem viertönigen Lamento-Bass darstellt (aus seinem 8. Madrigalbuch, Venedig1638). Ich behaupte nicht, dass Ashcroft hier abgekupfert hat; die intertextuellen Bezüge sind aber verblüffend. Und Monteverdis Varianten-Reichtum der Instrumente, der solistischen Frauenstimme und der drei kommentierenden Männerstimmen scheint unerschöpflich zu sein.
    – http://www.youtube.com/watch?v=pX4neV6oT2Q
    Was die Macht der Gefühle betrifft, noch eine Geschichte aus Italien um 1700. Ein Sänger, sicherlich ein Kastrat, singt eine herzzerreißende Klage-Arie, ebenso sicherlich mit zahlreichen Lamento-Bässen und Lamento-Linien. Die Zuhörer schmelzen dahin vor Rührung. Sie wissen: Dargestellte Affekte lösen identische Affekte aus, und sie verhalten sich getreu diesem Ideal. Plötzlich hören die Musiker auf zu spielen. Der irritierte Sänger geht an die Rampe, flüstert: »Warum spielt ihr nicht weiter?« Die Musiker: »Wir weinen.«
    Nun zu etwas ganz anderem – ein kleines Wechselbad der Gefühle. Die Pet Shop Boys mit GO WEST, einer Cover-Version der Village People (1979, http://www.youtube.com/watch?v=K22ZD1HUV4g ).
    Aufbruchstimmung, Siegesgewissheit, auch auf dem Fußballplatz: Steh auf, wenn du Schalker bist! Der Westen als Glücksversprechen, als Freiheitsversprechen. Aber auf dieser komischen Erde ist es halt so: Wenn man permanent in den Westen geht, kommt man irgendwann im Osten an, und wie das dann klingt, zeigt die RUSSISCHE NATIONALHYMNE (Musik 1944) in ihrem zweiten Abschnitt (Takt 5), im folgenden Klangbeispiel ab 0’16’’.
    – http://www.youtube.com/watch?v=wPCLnlZZx8E&feature=related

    Das ist die heutige russische Nationalhymne, früher auch (seit 1944) die sowjetische, durch Putin mit neuem Text reaktiviert, bei der sich die cleveren Boys bedient haben. Das war jetzt aber ein kleiner Taschenspielertrick, denn das Modell, das all dem zugrunde liegt, ist unendlich viel älter; es kommt aus dem 15. Jahrhundert, aus der Improvisationskunst, das sogenannte »Parallelismusmodell«, und das haben alle Komponisten bis mindestens Gustav Mahler Tausende Male komponiert (leider hat sich das noch nicht bei allen Musiktheoretikern herumgesprochen; sie kennen es primär vom Kanon des Komponisten Pachelbel aus dem 17. Jahrhundert und nennen es deswegen »Pachelbel-Modell« –  mit gleichem Recht könnte es Josquin-Modell heißen oder Purcell-Modell oder Mozart-Modell oder Petshop-Modell – oder Putin-Modell).
    Pachelbels KANON UND GIGUE findet sich unter
    – http://www.youtube.com/watch?v=G6Q1P1hO7LQ .
    Beim nächsten Beispiel platzen die Kürbisse: TONIGHT von den Smashing Pumpkins (1996, http://www.youtube.com/watch?v=UAS6daVLT5U ).
    Diese

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