Der Musikversteher
Allusion von Edward Griegs MORGENSTIMMUNG aus Peer Gynt (1875) in der Intro von Tonight grenzt an Diebstahl. Bei Griegs schöner pentatonischer Melodie werden lediglich die Dauern der einzelnen Töne verlängert – sonst herrscht für lange Zeit fröhliche Übereinstimmung. Dass ausgerechnet die Morgenstimmung für Tonight verwendet wird, zeigt schon wieder bewundernswerten Charme. (Grieg, MORGENSTIMMUNG in E-Dur findet sich unter http://www.youtube.com/watch?v=GyobDmGPhKI ).
Jetzt kommen wir aber zu einer neuen, ganz anderen Kategorie, die durch die Möglichkeiten der Digitalisierung eröffnet wurde: Chemical Brothers, GALVANIZE (2005, http://www.youtube.com/watch?v=K6TE9PJIrpA ).
Die Digitalisierungen der Sampletechniken erlauben in der Gegenwart alles . Was benutzen die Chemical Brothers – zugegeben sehr virtuos? Ein Streicher-Sample von arabischer Musik, in einem Stimmungssystem, das nicht, wie unsere Flügel, »gleichschwebend temperiert« ist, sondern das z. B. Vierteltöne und Dritteltöne kennt. Und so reibt sich dieses musikalische Multikulti-Raubgut sehr produktiv am amerikanisch-mitteleuropäischen Rest dieses Stückes – die Chemical Brothers sind durchaus virtuose Komponisten. Und die Aufforderung des Textes, »Push the button«, ist einerseits sexuell anzüglich (also sowohl hip- als auch hop-tauglich), andererseits selbstreferentiell musikalisch, denn gemeint sein kann ebenso das jeweilige Starten des Sampling-Prozesses und der einzelnen Samples beim Mix.
Und noch weitere Kategorien gibt es: Wir hatten bisher Zitate, Allusionen, Teilhabe an Sprache und ihren Vokabeln und Sampletechniken. Wir kommen, abschließend, zu den Kategorien Bearbeitung, Adaption und Coverversion. Den Unterschiedkann man juristisch definieren: Für eine Bearbeitung braucht man die Genehmigung des Urhebers bzw. des Rechte-Inhabers, und wenn diese Bearbeitung künstlerisch eine selbstständige Leistung darstellt, dann bekommt der Bearbeiter 50 Prozent der GEMA-Einnahmen. Eine Cover-Version hat diesen Anspruch von vornherein nicht , und so verzichten die Cover-Macher auch a priori auf die Einnahmen der Verwertungsgesellschaften (es bleiben aber in der Regel noch hübsche Sümmchen für CD-Verkauf, Konzerte etc.).
THE SECRET MARRIAGE (1987), Stings Eisler-Adaption, ist leider nicht auf YouTube verfügbar; daher verweise ich als Klangbeispiel auf Petr Kotvalds und auf Julee Karans THE SECRET MARRIAGE, beide Adaptionen der Adaption, die zweite jazzgeprägt.
http://www.youtube.com/watch?v=YIB4f3tvXoI und http://www.youtube.com/watch?v=cusCzorVxBU&feature=related .
Sting – THE SECRET MARRIAGE – ein sehr melancholischschöner Song: »Keine irdische Kirche hat unsere Vereinigung je gesegnet, kein Staat hat uns seine Erlaubnis gegeben – keine Blumen auf dem Altar, kein weißer Schleier in deinem Haar – der Schwur der heimlichen Hochzeit wurde nie geleistet, die heimliche Ehe kann niemals zerbrechen«. Der Song ist aber gar nicht von Sting, sondern von Hanns Eisler (auf einen Text von Brecht), AN DEN KLEINEN RADIOAPPARAT ( http://www.youtube.com/watch?v=SGcx6AGAxjE ).
Eislers AN DEN KLEINEN RADIOAPPARAT aus dem Hollywooder Liederbuch entstand im Exil 1942; Sting hat lediglich sparsam instrumentiert, für seine Stimmlage transponiert und den neuen Text gemacht. Das Hollywooder Liederbuch enthält ca. 50 Werke auf Texte aus 2500 Jahren Menschheitsgeschichte, von biblischen und anakreontischen Fragmenten über Pascal, Goethe, Hölderlin, Rimbaud bis hin zu Bertolt Brecht. Der Brecht-Text »An den kleinen Radioapparat« geht auf eine rührende Weise mit der bedrückenden Exil-Situation zur Zeit der großen Nazi-Siege um:
Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug
Daß seine Lampen mir auch nicht zerbrächen
Besorgt vom Haus zum Schiff, vom Schiff zum Zug
Daß meine Feinde weiter zu mir sprächen
An meinem Lager und zu meiner Pein
Der letzten nachts, der ersten in der Früh
Von ihren Siegen und von meiner Müh:
Versprich mir, nicht auf einmal stumm zu sein!
Weitere Adaptionen von Sting: aus Sergej Prokofjews Lieutenant Kijé-Suite, von J. S. Bach, und (als große Hommage) das Album Songs from the Labyrinth mit Liedern des englischen Komponisten John Dowland (1563 –1626).
Es wird Zeit für ein abschließendes Schmankerl. Nicht zu glauben: Charlie Chaplin zu Besuch bei Béla Bartók! Und zwar auf eine mich selbst verblüffende Weise: Ich sagte mir immer, beim Hören von zwei Stellen des Schluss-Satzes von
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