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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta: das kennst du doch? Aber woher bloß? Und irgendwann habe ich mich erinnert: Chaplin! Es geht um den wunderbaren Film Modern Times (1936) – die Szene mit Charlie als singender Kellner mit dem vergessenen Text. Das ist heute selbstverständlich immer noch ein Hauptprobleme beim Singen – wohin schreibe ich den Text, den ich so gern vergesse? Charlie entscheidet sich für die Manschetten, tritt mit großer Geste auf, die Manschetten fliegen weg – Ratlosigkeit, das Orchester wiederholt dutzendfach den Einleitungsakkord – und dann singt er improvisierend einen unvergleichlichen Nonsense-Text, in spanischitalienischem Englischfranzösisch. Bitte nicht vergessen: In diesem Lied erklingt zum ersten Male überhaupt die Stimme Chaplins in einem Film! Kurze Kostprobe des Textes:
    »Le spinash or le busho, cigaretto toto bello,
    Ce rakish spagoletto, si la tu, la tu, la tua!«
    – http://www.youtube.com/watch?v=u7syeomwZbk
    Das ist ein polkaähnlicher Twostep-Rhythmus, mit melodischem Umkreisen des Quint-Tones in f-Moll; eine Groteske der trivialen Popularmusik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Zitat eines französischen Cabaret-Liedes (Léo Daniderff, JE CHERCHE APRÈS TITINE, 1917) schon bei Chaplin.
    Béla Bartóks MUSIK FÜR SAITENINSTRUMENTE, SCHLAGZEUG UND CELESTA (eines der »Jahrhundertwerke« der Neuen Musik) entstand im Spätsommer 1936 und wurde im Januar 1937 uraufgeführt, also genau ein Jahr nach Chaplin. Es gibt keinen Beweis, dass Bartók den Film bewusst rezipiert hat; er könnte auch Daniderffs Lied gekannt haben. Wir wissen aber, dass er Chaplin sehr liebte und ein eifriger Kinogänger war. Daher ist die Wahrscheinlichkeit einer Allusion der Groteske sehr hoch (und es ist wahrscheinlich, dass er zusätzlich sogar das französische Original kannte). Bartók spitzt aber die musikalische Groteske noch zu, indem er das rhythmische Motiv auf einer Tonhöhe repetiert, allerdings als dissonanten Tonfleck, und dann die Melodik noch ins Absurde verzerrt.
    Der 4. Satz beginnt ab 2’55’’: http://www.youtube.com/watch?v=YB_PTA4dGws&feature=related .
    Die Groteske mündet in eine große Kantilene der Streicher. Und diese Kantilene hat den musikalischen Hauptgedanken des ganzen Werks, allerdings in einer Gestalt, die das Ergebnis einer kompositionstechnischen Finesse ist; Bartók selbst bezeichnete das als »extension in range«. Ursprünglich lautete der Beginn des Themas in den anderen Sätzen so: a-b-cis 1 -c 1 -h. Also eine äußerste Enge von Halbtönen, aus der ein Fugenthema gemacht wird. Der erste Satz der »Musik für Saiteninstrumente« von Béla Bartók ist eine Fächerfuge, eine Hommage für Johann Sebastian Bach. Die Buchstaben seines Namens sind in den fünf ersten Tönen des Themas enthalten: B-A-C-H. Und dann erfahren also diese Intervalle im Schluss-Satz ihre »extension«, ihre Ausdehnung; aus Halbtönen werden Ganztöne, aus Ganztönen Terzen, aus kleinen Terzen Quarten.

    Der alludierte Chaplin-Twostep ist in diesem vierten Satz, einem wirbelnd-raschen Tanz-Finale, nur einer von zahlreichen Tänzen aus der Volksmusik und aus der Unterhaltungsmusik, die hier in friedlicher Koexistenz miteinander leben.

11. Der Riss geht durch mich hindurch
»E« und »U« in der Musik und in der Musik geschichte – »Lob der schlechten Musik« – Die achte der Sieben Todsünden in der Musik
    Kurzanalysen: Igor Strawinsky DIE GESCHICHTE VOM SOLDATEN (Tango, Walzer, Ragtime); Hanns Eisler DIE BALLADE VON DEN SÄCKESCHMEISSERN
    Als seriöser Komponist und ebenso seriöser Musikwissenschaftler werde ich oft gefragt, welche Komponisten und Kompositionen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ich denn besonders schätze. So treffen sich also mein musikalisch-ästhetisches Urteilsvermögen und meine persönlichen Vorlieben zu einer kurzen, intensiven Beratungsphase, und das Ergebnis ist: Karlheinz Stockhausen – eher nein; Luigi Nono und Pierre Boulez ja, selbstverständlich, aber oft mehr intellektuell als unmittelbar sinnlich; Luciano Berio – wunderbar; György Ligeti und Helmut Lachenmann – so könnte, bei allen Unterschieden, Komponieren heute sein, vorbildlich.
    Als seriöser Komponist und ebenso seriöser Musikwissenschaftler frage ich mich oft, welche Stücke aus den sechziger und siebziger Jahren in mir unmittelbar lebendig sind. Und das Ergebnis ist ein radikal anderes. Denn jetzt taucht plötzlich Jazz auf;

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