Der Musikversteher
einprägsame Melodie in E-Dur – sie beschränkt sich auf insgesamt nur fünf Töne, ohne aber irgend ein Klischee zu erfüllen: Die ersten sieben Töne könnten noch als Moll-Pentatonik gemeint sein (fis 1 -gis 1 -e 1 -gis 1 -fis 1 -e 1 -cis 1 -cis 1 ), aber dann kommt der Intervall-Sprung der kleinen Sexte aufwärts ins a 1 ; alles zusammen ist vertraut und individuell zugleich – und dem sehr kleinen Stimm-Umfang Nenas angemessen. Auch das durchgängige rhythmische Pattern bohrt sich in die Ohren. Wie geht es weiter? Es müsste die 2. Strophe als jetzt »echte« Strophe folgen.
In der Bridge (0’30’’– 1’10’’) eine Überraschung: Dieser rein instrumentale Synthie-Pop klingt wie eine Binnen-Introduktion, mit Figurationen, die normalerweise die Funktionen von Riffs im gesamten Stück hätten. Wo bleibt Nena?
In der zweiten Strophe (1’08’’– 1’32’’) wird klar, dass die »Intro« schon Strophe 1 war. Melodie und Harmonien kommen unverändert wieder, aber jetzt mit Gitarre, Bass, Schlagzeug, später Synthesizer. Und der Gesang? Nena kann nicht singen, aber das auf charmanteste Weise. Wie sie die Töne »antaucht«, das ist ihr Markenzeichen. Aus einem objektiven Mangel wird eine Stärke gemacht. Die Geschichte von den 99 Ballons endet böse, mit Krieg und Zerstörung.
Sie wird in einem Song erzählt, der nicht die normale Abfolge von Strophe, Refrain, Bridge hat. Es gibt nur Strophen, aber die wirken wie Intro, Strophe, instrumentale Bridge, Refrain und Epilog (»Outro«). Wir hören also noch den Epilog (3’10’’– Schluss).
Nach all dem fröhlich-frechen antimilitaristischen Populismus der Rückgriff auf die Intro; nachdenklich-ruhig, ohne Schlagzeug entschwebend im ätherisch hohen Synthie-Register, ganz zum Schluss sogar mit einem sanften Aufwärts-Glissando.
Das Stück ist weit mehr als einfach nur »nett«. Das Populare wird eingesetzt, um freche, kritische und nachdenkliche Haltungen zu vermitteln. Der Welterfolg zeigt, dass auch relativ beschränkte musikalische Mittel dann in Ordnung sind, wenn sie überzeugend und einprägsam eingesetzt sind.
Portishead SOUR TIMES (1994)
– http://www.youtube.com/watch?v=Dr3In858tQk
Was richtet ein musikjournalistischer Begriff wie »Triphop« an? Kenner nicken, man hat eine Klischeezuschreibung, die irgend etwas mit »Bristol« zu tun hat, weiß aber nicht genau, was das musikalisch bedeuten könnte. Hiphop auf irgendeinem Trip? Macht nichts, die Namensnennung allein garantiert Expertentum. Unabhängig davon: der Titel Sour Times verspricht biblische Dimensionen. Das ist zu überprüfen.
Die Intro (0’00’’– 0’20’’) empfängt uns mit langsamem, schreitendem Beat; Melancholie-Tonart cis-Moll; melancholischeMelodie-Figuren, die »lamentös« in engen Halbtönen abwärts gehen: einmal a-gis-fisis, dann in tiefer Lage mit Ton-Repetitionen vom Grundton Cis aus mit anschließendem Terz-Sprung: cis-cis-cis-cis – His-His – H-H – Gis.
Letzteres ist ein Sample eines Stückes von Lalo Schifrin, eines argentinischen Komponisten, DANUBE INCIDENT (bei der oben angegebenen Live-Aufnahme wird das Sample allerdings instrumental gespielt).
Sehr Jazz-nah ein »kommentierender« Gitarrenakkord, wunderbar stachlig-dissonant, die Aussage des Textes verdeutlichend: Wir hören cis Moll 7 mit kleiner und großer Septime gleichzeitig, also: über Cis erklingt his-e 1 -gis 1 -h 1 . Am Schluss dann cis Moll maj7 9 .
Darauf »setzt« sich nun in der Strophe (0’19’’– 0’35’’) die Stimme mit typischem Erzähl-Tonfall; es wird rezitier – Alternieren zwischen dem festgehaltenen Grundton cis 1 und jeweils dissonierenden variablen Vorhalts-Tönen (Vorhalte kursiv ):
Dis 1 -cis 1 - dis 1 -cis 1 - dis 1 -cis 1 - dis 1 etc.; dis 1 -cis 1 - dis 1 -cis 1 - fis 1 -e 1 - dis 1 -cis 1
Der erste Refrain ist sehr knapp, nimmt die melancholische Halbtonmelodie der Intro wieder auf. »Cos nobody loves me. It’s true. Not like you do.« Insgesamt kommt der Refrain so oft wieder, dass man auch hier von einem barock-klassischen »Rondeau« sprechen könnte. An den Refrain schließt sich ein kurze Überleitung an (0’34’’– 0’55’’).
Der Text löst die biblischen Assoziationen des Titels wirklich teilweise ein: verbotene Frucht, verborgene Augen, blinder Glaube, Phantasien sündiger Bildschirme, aber auch die Aufforderung: »ertrage die Tatsachen, take a ride«.
Später im Song gibt es einen Abschnitt, der wie eine Bridge
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