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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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Angst.
    Obwohl sie später bestritten, dort gewesen zu sein, sich gar der Anstiftung oder Beihilfe zum Mord schuldig gemacht zu haben, wurden mit Hilfe von Fotografien, die vom Videoband reproduziert wurden, mehr als hundert Personen identifiziert. Es war ein langwieriges und mühsames Unternehmen, das erst nach mehr als zwei Jahren zum Abschluss gebracht werden konnte und doch umsonst war, da die Geschworenen nicht im Stande waren, in der körnigen schwarz-weißen Maske des Hasses, die ihnen vorgelegt wurde, den ersten Angeklagten, dem der Prozess gemacht wurde, zu erkennen. Sie entdeckten keinerlei Ähnlichkeit zwischen dem frischen, gut gekleideten achtzehnjährigen Jungen mit dem freundlichen Lächeln und dem geradezu bösartig aussehenden Halbwüchsigen auf dem Foto. Alle nachfolgenden Verfahren wurden eingestellt.
    Nur die wenigen Mutigen, die mit Melanie Patterson zusammen in der Mauer gestanden hatten, bekannten sich am Ende zu ihrem Anteil an den Geschehnissen jenes Tages. Alles, was sie taten, wurde von der Kamera im Hubschrauber aufgenommen: wie sie die Bombenwerfer in Schach gehalten hatten ebenso wie ihre Bemühungen, das Feuer zu löschen und den Angriff, der schließlich erfolgte, abzuwehren. Aber keiner von ihnen war bereit, gegen Einzelpersonen auszusagen. Zu groß war ihre Angst vor der Gangstermentalität, die sich im Gewaltklima der Acid Row entwickelt hatte und Rache an jedem Verräter forderte.
    Einzig gegen Wesley Barber scheute sich niemand auszusagen.

23

Im Haus Humbert Street 23
    Jedes Mal, wenn er in die Küche rannte, um den Eimer und die anderen Gefäße neu zu füllen, lauschte Jimmy angespannt. Einmal vernahm er einen gedämpften Aufprall, als hätte man jemandes Kopf gegen den Fußboden geschlagen; ein andermal glaubte er, Stimmen auszumachen. Unten war eindeutig niemand. Auf dem Weg zum Wohnzimmer stieß er die Tür des hinteren Zimmers weit auf und stellte mit einem kurzen umfassenden Blick fest, dass es leer war.
    Zumindest waren keine Menschen darin. Jedoch vieles andere. Es war der Traum eines Musikers. Alles war da: Computer. Synthesizer. Mischpulte. Verstärker. Keyboard. Gitarren. Schlagzeug. Sogar ein Saxophon. Für einen Mann wie Jimmy war es eine teuflische Versuchung. Ein Tonstudio, das nur noch in Besitz genommen werden musste. Alles, was er brauchte, um keine krummen Sachen mehr machen zu müssen. Vom ersten Moment an stand für ihn fest, dass hier nichts zerstört oder gestohlen werden durfte. Er wollte es alles für sich haben.
    Als er das dritte Mal an dem Zimmer vorüber musste, prüfte er die Tür und entdeckte den Schlüssel, der innen steckte. Im Nu hatte er abgesperrt und den Schlüssel eingesteckt. Viel würde das zwar nicht helfen, wenn diese Idioten draußen auf der Straße beschließen sollten, das Haus zu stürmen, aber vielleicht würde die Tür wenigstens so lange halten, bis er zurückkommen und seinen Anspruch geltend machen konnte.
    Später bereute er es natürlich, die Tür abgesperrt zu haben, weil er damit das einzige Versteck in diesem entsetzlichen Haus blockiert hatte.
    Aber hinterher ist man ja immer klüger...
    Im Laufe des Nachmittags war Sophie selbstsicherer geworden. Wenn es Franek wirklich gelingen sollte, sie noch einmal zu attackieren, hatte sie sich gesagt, würde sie ihm die Augen auskratzen, das Knie in die Eier rammen, beißen, schlagen, treten. Keinesfalls würde sie klein beigeben. Lieber kämpfen bis zum bitteren Ende, als ihn in dem Glauben lassen, Frauen wären leicht zu haben. Welch mutige Überlegungen. Direkt aus dem Kino, nicht aus dem wahren Leben. Als moralische Aufrüstung gedacht, solange sie auf den Füßen stand und eine Waffe in der Hand hatte. Undurchführbar, wenn man platt auf dem Boden lag.
    Sie war so hilflos wie ein aufgespießter Schmetterling, unfähig, sich zu befreien. Das Gewicht seines Körpers drückte sie nieder, seine Hände pressten die ihren über ihrem Kopf auf das harte Holz, seine fleischige Brust und das dicke schwarze Kraushaar verschlossen ihr Mund und Nase, so dass sie nicht einmal schreien konnte. Er stank nach Schweiß und ungewaschenen Kleidern, und sie spürte, wie Ekel und tiefe Niedergeschlagenheit in ihr aufstiegen und sie zu ersticken drohten. Sie konnte nicht sagen, ob ihre eigene Angst oder seine rohe Kraft ihr alle Energie raubten. Sie wusste nur, wenn sie nicht noch einmal geschlagen werden wollte, musste sie still liegen bleiben und durfte ihn nicht wieder provozieren. Das war das

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