Der Nachbar
dachte sie, während sie mit den Fingern seinen Hinterkopf abtastete. An der Stelle, wo Franek ihn mit dem Stuhl getroffen hatte, konnte sie eine Beule fühlen, aber sonst keine Verletzungen. Vielleicht nahm sein Unterbewusstsein den Lärm aus der Bassett Road wahr und warnte ihn, dass immer noch Gefahr bestand.
Das Telefon im vorderen Zimmer hatte zweimal geläutet, aber Clara Frensham war offenbar zu bestürzt, um hinzugehen. Sie war knapp über Vierzig und war immer eine schüchterne Person gewesen, aber das Wissen um die Verwüstungen, die die Krebsoperation in ihrem Gesicht angerichtet hatte, hatte auch das letzte Fünkchen Selbstwertgefühl in ihr erstickt. Mit einer Hand die Plastikprothese verdeckend, die ihre Nase ersetzen sollte, hockte sie in sich zusammengekauert in einem Sessel und starrte bald Sophie bald Franek an, verschreckt und ohne die geringste Ahnung, warum die beiden Gesichter so blutig und zerschunden waren. Sophies Bemühungen, sie zu beruhigen, waren auf Schweigen gestoßen, und Sophie hatte sich daraufhin seufzend auf Nicholas konzentriert. Sie selbst wollte nicht ans Telefon gehen, weil sie fürchtete, was Franek in ihrer Abwesenheit tun oder zu Clara sagen würde.
»Kommen Sie, Nicholas!«, forderte sie mit lauter Stimme und schlug ihm dabei auf die Wangen. »Es ist alles in Ordnung. Wir sind heil aus dem Haus entkommen. Sie können die Augen jetzt aufmachen.«
»Warum rufen wir nicht die Polizei an und sagen, dass wir Hilfe brauchen?«, fragte Franek aufgebracht.
»Es gibt keine Hilfe«, antwortete sie kurz. »Wir müssen allein zurechtkommen.«
»Dann rufen Sie einen anderen Arzt an. Lassen Sie sich sagen, was Sie tun müssen. Ich kenne Milosz. Er bleibt ganz lange so, wenn nicht sein Papa ihn in den Arm nimmt und mit ihm redet.«
»Ja, das würde Ihnen so passen«, fuhr sie ihn an. »Vor Ihnen hat er doch mehr Angst als vor allem anderen.«
Der alte Mann wandte sich an Clara, mit leiser flehender Stimme. »Rufen
Sie
an, bitte! Sprechen Sie mit der Polizei. Sagen Sie, dass die Ärztin hier nichts taugt. Sagen Sie ihnen, dass sie Franek sterben lassen will. Sie können das doch bezeugen. Sie haben gehört, was sie gesagt hat, als Sie mir helfen wollten. Sagen Sie ihnen, dass der Nigger mich niedergeschlagen hat. Sagen Sie, dass ich keine Luft bekomme, weil er mich gefesselt hat, und dass Milosz bewusstlos ist vor Angst. Sagen Sie ihnen, sie sollen Sophie befehlen, Franek loszubinden, damit er seinem Sohn helfen kann.«
Clara Frensham richtete sich vorsichtig auf, als übte die weiche Stimme mit dem melodischen polnischen Akzent eine verführerische Wirkung auf sie aus. »Vielleicht sollte ich es versuchen, Sophie«, murmelte sie hinter der vorgehaltenen Hand, selbst einen flehenden Ton anschlagend. »Die Polizei sollte doch Bescheid wissen, finden Sie nicht? Ich meine – na ja – man kann doch nicht einfach jemanden fesseln... und der Schwarze hat ihn ja wirklich niedergeschlagen.«
Sophie hockte sich auf die Fersen zurück und sah Franek an. »Sie sind wirklich unglaublich«, sagte sie mit einem tonlosen Lachen. »Ist das Ihre Methode, Verwirrung zu stiften? Indem Sie Clara auf Ihre Seite ziehen und mir und Jimmy Brutalität unterstellen, um damit meine Vorwürfe gegen Sie zu entkräften.«
In seinen Augen blitzte der Schimmer eines Lächelns, vielleicht eine gewisse Bewunderung, vielleicht aber auch Schadenfreude angesichts ihrer Entstellung. »Was wollen Sie mir denn vorwerfen?« Er senkte das Kinn, um seine eigene Entstellung zu zeigen. »Sie haben mich zuerst angegriffen. Ich bin ein gebrechlicher alter Mann. Sie sind eine kräftige junge Frau. Natürlich habe ich mich verteidigt. Milosz hat alles genau gesehen. Er kann sagen, wie es war, wenn die Polizei fragt.«
Sie fragte sich, ob er mit einer solchen grotesken Verdrehung der Tatsachen durchkommen könnte. »Sie sind seiner sehr sicher«, sagte sie und hob das Handgelenk seines Sohnes etwas an, um noch einmal den Puls zu fühlen. »Hat er schon früher Lügenmärchen für Sie erzählt?«
»Ich sage nur die Wahrheit«, entgegnete er. »Diese Dame ist meine Zeugin. Sie hat gehört, was Sie gesagt haben – und hat gesehen, was der Nigger getan hat.«
Sophie warf einen Blick auf Clara. Sie wollte der Frau nicht Angst machen, indem sie sie darüber aufklärte, wer die Zelowskis waren; andererseits wollte sie Franeks Behauptungen nicht unangefochten stehen lassen.
»Haben Sie ein schnurloses Telefon, Clara?« Clara
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