Der Nachbar
Und während sie hinausblickte, löste sich das Geschrei der Menge in einzelne höhnische Stimmen auf. Die erste kannte sie, konnte aber nicht sagen, wem sie gehörte.
»Hey, lang warten wir nicht mehr, du Kuh!«
»Was macht dein Typ da drinnen, Mel? Treibt er's vielleicht mit Perversen?«
»Kann ja sein, dass er für Tussen mit dicken Bäuchen nichts übrig hat. Kneif nächstes Mal lieber die Beine zusammen.«
Dieselbe Stimme, lauter und hemmungsloser. Die Stimme eines Schwarzen. »Wenn der denen hilft, Zicke, reiß ich euch den Arsch auf, dir und deinem beschissenen Bruder, das schwör ich. Wie wir die Bomben gemacht haben, hast du große Reden geschwungen, Col, und jetzt traust du dich nicht, damit zu werfen, du feige Sau.«
Wesley Barber, dachte Gaynor erschrocken. Der Verrückte, der auf Methedrin war – und allem Anschein nach bis obenhin damit vollgepumpt. O Gott, was sollte sie tun? Rauslaufen und sich zu Melanie und Colin stellen? Den Leuten sagen, dass Jimmy gar nicht mehr da war? Sie würden ihr nicht glauben. Und wo war er überhaupt hin? Was tat er? Wer waren die Leute, die er bei sich hatte? Sie suchte krampfhaft nach Antworten. Waren es die Kinderschänder? Aber wer war die Frau? Und was würden die Leute mit Mel und Col machen, wenn sie glaubten, Jimmy hätte den Perversen zur Flucht verholfen?
Mit Gewalt zügelte sie ihre Gedanken. Das Einzige, was sie zu interessieren hatte, war eine Lösung. Es war unsinnig, wenn Mel und Col ein leeres Haus bewachten. Da wäre es das Gescheiteste, sie – Gaynor – stiege durchs Fenster raus und sagte ihnen, sie sollten sich zurückziehen und Wesley ins Haus lassen. Den Brandgeruch nahm sie nicht als bedrohlich wahr. Das Feuer war aus, und die Konsequenzen für die Nachbarhäuser, wenn Nummer 23 in Flammen aufginge, interessierten Gaynor im Augenblick so wenig, dass sie diese Gefahr nicht einmal in Erwägung zog. Sie lief in Windeseile die Treppe hinauf, um einen Blick in die oberen Räume zu werfen.
Sie hatte geglaubt, es gäbe nichts mehr, was sie schockieren könnte – bis sie das Blut im Zimmer hinten sah. Bei dem widerlichen Gestank, dem schal süßlichen Odeur fremder Körperausdünstungen, drehte sich ihr der Magen um, und sie floh, die Hand auf den Mund gedrückt und schluchzend vor Furcht, die Treppe hinunter. Unten stützte sie sich zusammengekrümmt an die Wand und würgte heftig.
»Wer sind Sie?«, fragte jemand mit quengeliger Stimme.
Sie riss den Kopf in die Höhe. Ein Mann mit einer Machete stand an der Wohnzimmertür. Sie wollte etwas sagen... ihren Namen nennen... aber sie brachte nur einen Schrei hervor...
Vor dem Haus Humbert Street 23
Alle hörten ihn.
Jimmy, der auf dem Weg durch den Garten war, rannte schneller.
Melanie sah mit bleichem Gesicht ihren Bruder an.
Wesley und seine Kumpane griffen an.
»Blödes Luder!«, schrie er und hieb Melanie mit der Faust in den Leib.
Er blieb über ihr stehen, als sie stürzte, und wirbelte sein Messer in der Hand. Er war Wesley Snipes in
Blade
. Killer aller Vampirperversen.
Weißer
Vampirperverser. Das war seine Berufung. Er
war
Wesley Snipes... schon seit er das erste Mal
New Jack City
gesehen hatte. Ein gefährlicher schwarzer Bastard, der die Welt beherrschen konnte. Es musste doch einen Grund für seinen Namen geben. Sein Vater war's bestimmt nicht (Wesley Barber Senior). Sein Vater war ein Versager. Ein mickriger kleiner Dieb, der im Knast mehr zu Hause war als bei seiner Familie.
Irgendwo in Wesleys wirrem, von Drogen zerstörtem Hirn dröhnte die fromme Stimme seiner Mutter. »
Du taugst nichts, Junge. Du schlägst deinem Vater nach. Nur unser Herr Jesus liebt dich. Nur unser Herr Jesus macht dich zum besseren Menschen. Nimm den Herrn an und du wirst deine Mutter stolz machen auf dich.«
»
Nei-ei-ein!« Er zog Colin rückhändig das Messer über die Wange, riss ihm die Beine auseinander und spreizte ihm die Arme, als wollte er ihn ans Kreuz schlagen. »Arschloch! Ich bin
Blade
!«
Er schwang sich über den Fenstersims und rannte durch das Wohnzimmer.
Im Haus Humbert Street 23
Jimmy blieb wie vom Donner gerührt stehen. Vor ihm im Korridor duckte sich Gaynor gegen die Wand und wehrte mit fuchtelnden Armen seinen Freund, den alten Soldaten, ab, der ihr aufhelfen wollte. Sein Stahlhelm saß schief, und seine Beine wuchsen wie dünne, knubbelige Äste aus den ehemals schneidigen Shorts des Kolonialsoldaten hervor. Er sah aus wie das, was er war. Ein alter Idiot, der in der
Weitere Kostenlose Bücher