Der Nachbar
Vergangenheit lebte.
Beängstigend war allerdings die Machete. Er schwang sie wie ein Gegengewicht an seiner Seite. Vorwärts und rückwärts pfiff sie durch die Luft, die Klinge so alt und so lange unbenutzt, dass Rost sie rot gefärbt hatte. Oder Blut? Selbst Jimmy war unsicher, obwohl er mit dem Mann gesprochen hatte.
»Keine Angst, Gaynor«, rief er beruhigend. »Ich kenn den Mann. – Hey, Meister! Tun Sie mir nen Gefallen. Tun Sie die Machete runter. Sie machen ihr Angst.«
Der alte Soldat richtete sich auf. »Ach, Sie sind es!«, rief er. »Ich bin Ihnen gefolgt. Sie sind zum Stehlen hergekommen.«
Jimmy hob die Hände, als kapitulierte er. »Sie haben mich mit einem Blick durchschaut, Sir. Ich bin ein Dieb, ja. War immer einer und werd immer einer sein. Wollen Sie nicht die Dame vergessen und dafür mich festnehmen.« Er hob eine Hand. »Mein Ehrenwort, ich mach keine Schwierigkeiten.«
Der alte Mann warf einen verwirrten Blick auf Gaynor. »Diese Frau braucht Hilfe.«
»Nein, braucht sie nicht, Meister. Ihre Kinder sind draußen. – Zeig ihm, dass dir nichts fehlt, Gaynor. Komm, steh auf und mach die Tür auf. Geh raus und sag Mel und Col, sie sollen sich hier reinschwingen. Ich komm, so schnell ich kann.«
Gaynor nickte und rannte in geduckter Haltung stolpernd zur Haustür.
Jimmy öffnete seine Hände und winkte dem alten Soldaten mit gespreizten Fingern. »Kommen Sie, Freund. Das Klima hier ist ungesund. Da draußen sind 'n paar gedopte Typen, die werden hier gleich wie Exocet Raketen reindonnern. Ich bin zwar 'n Nigger, aber ich weiß, von was ich red. Verlassen Sie sich auf mich. Sie sollten besser nicht mehr hier sein, wenn's losgeht.«
Die alten Augen blickten ihn an. Verwirrt. Verschreckt. Aber voll Vertrauen...
Er machte einen Schritt vorwärts.
Zu spät...
Wesley kam aus dem Wohnzimmer geschossen.
»Lauf, Gaynor!«, brüllte Jimmy.
Luftaufnahmen aus dem Polizeihubschrauber
Die Kamera erfasste den Moment, als die Haustür aufflog und die Frau, von der man annahm, sie sei Gaynor Patterson, Hals über Kopf zur Straße hinausstürzte. Sie sprang auf und wedelte wie eine Wahnsinnige mit den Armen, aber ihre Stimme und ihre Gesten verloren sich im stampfenden Getümmel anstürmender Jugendlicher, die durch das Fenster zu ihrer Linken kletterten.
Hörte sie etwas? Entdeckte sie auf dem Asphalt etwas, das sie kannte? Unversehens stürzte sie sich mitten ins wogende Gewühl und begann zu schlagen und zu treten wie eine Straßenkämpferin.
Sie sahen wie die Schwarze, die neben Mel gestanden hatte, vom Rand hereindrängte und dabei mit großen Händen junge Männer aus ihrem Weg räumte, indem sie sie grob an den Ohren packte und auf die Seite schleuderte. Offenbar rief sie um Hilfe, denn eine Handvoll Menschen löste sich aus der Menge der Gaffer und rannte zu ihr.
Ungefähr zwanzig Jugendliche schafften es durch das Fenster ins Haus, bevor ein Halbkreis sich öffnete und man auf dem Gras davor eng umschlungen Gaynors Sohn und Tochter liegen sehen konnte. Selbst durch das unpersönliche Auge der Kamera betrachtet rührte Colins sichtbares Bemühen, seine Schwester zu beschützen, ans Herz. Er lag halb über ihr, die mageren Knabenarme fest um ihre Schultern geschlungen, seine Wange an ihre gedrückt.
Waren sie am Leben? Alle Köpfe neigten sich zu den Bildschirmen, alle hofften und wünschten sich dies und beteten stumm, als Gaynor sich auf die Knie warf, um ihre Hände zu fassen, ihre Gesichter zu streicheln, sie zurückzurufen. Aber es gab keine Reaktion. Nur die schreckliche Entspannung des Todes.
Im Haus Humbert Street 23
Wesley trieb den alten Soldaten vor sich her, so dass auch die Jugendlichen hinter ihm in den Korridor eindringen konnten. Einer seiner Freunde trat mit dem Fuß die Haustür zu, um das Getöse von draußen zu dämpfen. Andere liefen die Treppe hinauf. Wesley interessierte sich mehr für seinen Gefangenen. Er piekte den alten Soldaten mit seinem Schnappmesser in den Arm und lachte, als der alte Mann angstvoll aufschrie.
»Ist das die perverse Sau?«, fragte er Jimmy, drehte dabei den alten Mann zur Wand und drückte ihm den Kopf abwärts, um ihn so festzuhalten.
Jimmy, der fürchtete, dass schon die kleinste Bewegung Wesley veranlassen könnte, wieder mit dem Messer zuzustechen, blieb an der Küchentür stehen, ohne sich zu rühren. »Nein. Der Alte wohnt in der Bassett Road.«
»Was tut er dann hier?«
Das Einzige, was Jimmy darauf einfiel, war die Wahrheit.
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