Der Nachbar
»Er dachte, ich wollte hier klauen, und ist mir nachgelaufen.«
»Und wolltest du?«
»Klar, warum nicht? Es ist kein Mensch hier, Wesley. Das Haus ist leer.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung zum hinteren Zimmer. »Da drinnen ist 'n ganzes Tonstudio, wenn dich so was interessiert. Einer von den perversen Typen ist Musiker.«
Wesley beugte sich vor und riss dem alten Soldaten die Machete aus der Hand. »Für was hat er 'n die mit?«
»Wahrscheinlich hat er Muffen gehabt und wollt's nicht ohne Waffe mit mir aufnehmen.« Vorsichtig trat Jimmy einen Schritt näher. »Lass ihn laufen, Wesley. Er ist nur 'n harmloser alter Kerl, der verhindern wollte, dass drüben am andern Ende kleine Kinder totgetrampelt werden. Komm, ich mach dir 'n Vorschlag. Ich hab den Schlüssel zu dem Zimmer da hinten in der Tasche. Ich wollte später wiederkommen und die Bude ausräumen, eh mir jemand zuvorkommt.« Er zog den Reißverschluss seiner Tasche auf, nahm den Schlüssel heraus und legte ihn auf seine geöffnete Hand, um ihn Wesley sehen zu lassen. »Ich geb ihn dir im Tausch gegen den Alten. Da drinnen ist ein Vermögen an Equipment.«
»Der will dich nur reinlegen, Wes«, grölte einer der anderen Jungen. »Der Schlüssel passt gar nicht in die Tür da. Der ist scharf auf die Schwuchtel.«
Jimmy kniff die Augen zusammen. »Sag das noch mal, Arschloch.« Er hob die geballten Fäuste und ging noch einen Schritt vorwärts. Als der Junge zurückwich, lachte er. »Okay, ihr steht anscheinend auf der Leitung. Also sag ich's euch noch mal. Der Typ ist nicht der, den ihr sucht. Die Perversen sind hintenrum abgehauen. Ich hab das Haus durchsucht, und das einzige Zimmer, wo was drin ist, was sich lohnt, ist das hier. Da habt ihr Technik im Wert von ungefähr zehn Riesen. Drum hab ich's abgesperrt.« Er hob die Faust mit dem Schlüssel. »Wenn Wesley zu blöd ist für ein gutes Geschäft, schmeiß ich den Schlüssel jetzt in die Luft, und derjenige von euch, der ihn erwischt, kriegt den Hauptgewinn.«
Wesley verdrehte vor Anstrengung die Augen, als er mit seinem dumpfen Verstand Jimmys Vorschlag aufzunehmen versuchte. Er ließ den alten Mann los und drehte den Kopf zornig nach seinen Freunden um, um sie davor zu warnen, auf Jimmys Angebot einzugehen. Keine zwei Schritte mehr von dem Mann entfernt, umfasste Jimmy die durchsichtige alte Hand des Soldaten mit seiner kräftigen schwarzen Pranke und wollte ihn gerade wegreißen, als jemand mit donnerndem Schritt die Treppe heruntergerannt kam und in heller Panik schrie: »Er hat die kleine Amy umgebracht. Da oben ist alles voll Blut.«
Eine flüchtige Berührung warmer Finger, ein verständnisloser Blick aus alten Augen, bevor die Machete durch die Luft sauste und mit vernichtendem Schlag Jimmys Kopf traf.
Luftaufnahmen aus dem Polizeihubschrauber
Die Aufnahmen von der Schlachtung des alten Mannes waren zu entsetzlich, um unzensiert gezeigt werden zu können. Lediglich einige wenige Leute außerhalb der Einsatzzentrale bekamen die ungekürzte Fassung zu sehen. Zwölf von ihnen waren die Geschworenen beim Prozess gegen Wesley Barber; ihnen wurde das Band gezeigt, nachdem der Richter einen Antrag der Verteidigung, es als Beweismittel nicht zuzulassen, abgelehnt hatte. Wesleys Gesicht war unverwechselbar. Er hob es zum Hubschrauber empor, während er sich das Blut seines Opfers auf die Wangen schmierte, um sich danach mit stolz geschwellter Brust am offenen Fenster im oberen Stockwerk zu zeigen und die Menge mit geballter Faust nach Black-Panther-Art zu grüßen.
Die Geschworenen brauchten keine halbe Stunde, um ihn schuldig zu sprechen. Auch ihnen wurden therapeutische Sitzungen angeboten.
Als strafmildernder Umstand wurde der Konsum von Drogen geltend gemacht: Lysergsäurediäthylamid oder LSD; Methedrin oder ‘Kristalle’, die bevorzugte Droge des Mörders von Gianni Versace, Andrew Cunanan. Jedes der beiden Mittel für sich wirkte nachgewiesenermaßen angst- und aggressionssteigernd. Gleichzeitig eingenommen, führten sie zu völligem Realitätsverlust. Besonders bei einem Menschen, der in solchem Ausmaß‘sozial geschädigt’ und ‘geistig zurückgeblieben’ war wie Wesley Barber. Er kam aus einer unterprivilegierten Familie. Er war ein misshandeltes Kind. Er war schwarz.
Die Dealer waren schuld. Der abwesende Vater. Die überfromme Mutter. Die Schule, die nichts gegen sein Schwänzen unternommen hatte. Das Klima der Wut in Bassindale. Die Menschenmenge, die den labilen
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