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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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beantwortet, jetzt ließ sie sie unbeachtet. Es war sinnlos, mit dem alten Mann vernünftig sprechen zu wollen. Er hatte sich über den Diebstahl von Bargeld im Wert von zweihundert Pfund aus der Teedose in seiner Küche beschwert, hatte aber keine Ahnung, wann die Tat begangen worden war und wer sie begangen haben konnte. Er hatte ihr lediglich berichten können, dass eines Tages drei junge Burschen bei ihm geläutet hatten, die er jedoch nicht in die Wohnung gelassen hatte, weil sie ihm nicht gefallen hatten. Sie machte ihn auf die Diskrepanz aufmerksam – wenn die Burschen nicht in der Wohnung gewesen waren, konnten sie das Geld nicht gestohlen haben –, aber der Alte war von seiner Überzeugung nicht abzubringen. Einen Galgenstrick könne er auf eine Meile gegen den Wind riechen.
    Sie tat so, als stellte sie Untersuchungen an, und stocherte in der Küche in Schmutz und Abfällen herum. Aber es war weder eine Teedose da – nur eine Pappschachtel mit Tetley Teebeuteln, deren Verfallsdatum längst überschritten war – noch irgendein Hinweis darauf, dass hier Geld herumgelegen oder in den letzten Monaten jemand außer ihr den Staub in der Küche aufgewirbelt hatte. Was er erzählte, konnte gestern geschehen sein – oder vor fünfzig Jahren; sein Gehirn war kaputt, und sein Gedächtnis in Schwachsinn gefangen, der ihn zwang, auf Endlosschleifen immer den selben fixen Ideen zu folgen.
    Wie sorgte er für sich? Wer kümmerte sich um ihn? Sie hätte heulen können, als sie auf die speckig braunen Fettablagerungen von Jahren auf dem Herd und den Schmutzrand im Spülbecken starrte. Sie hätte sich gern die Hände gewaschen, aber der Gestank aus dem Abfluss hielt sie davon ab. Hier wimmelte es überall von Bakterien. Sie spürte, wie sie sich unter ihre Haut gruben, ihr Gehirn attackierten, ihre Entschlossenheit unterwühlten. Was für einen Sinn hatte ein solches Leben? Was für einen Sinn hatte das Leben überhaupt?
    Unablässig war dieser Gedanke ihr im Kopf herumgegangen, während sie versucht hatte, mit ihm zu sprechen, und als er sie jetzt gereizt anschnauzte, fragte sie sich, ob sie ihn womöglich laut geäußert hatte.
    »Was haben Sie gesagt?«, rief er scharf und mit speicheltriefenden Lippen. »Reden Sie lauter, junge Frau, ich hör nichts.«
    »Ich muss gehen«, wiederholte sie und artikulierte jedes Wort so genau wie ein Betrunkener.
    Er runzelte unwillig die Stirn. »Wer sind Sie überhaupt? Was tun Sie hier?«
    Wie oft hatte er sie das bereits gefragt? Wie oft hatte sie ihm geantwortet? »Ich bin von der Polizei, Mr Derry.«
    »Haben Sie die Burschen geschnappt?«
    Eine Schallplatte mit Sprung. Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde beantragen, dass die Gesundheitsbehörde eine Betreuerin bei Ihnen vorbeischickt«, sagte sie. »Die wird sich ein Bild von Ihren Lebensumständen machen und wahrscheinlich einen Umzug in ein betreutes Wohnheim empfehlen, wo man sich besser um Sie kümmern kann als hier.«
    Er schaute wieder zum Fernsehapparat. »Sie hätten einen Mann herschicken sollen«, erklärte er mit ätzender Verachtung.
    »Bitte?«
    »Ich wollte einen richtigen Polizisten – nicht so ein Mäuschen, das vor seinem eigenen Schatten Angst hat. Kein Wunder, dass hier das Verbrechen überhand nimmt.«
    Das gab ihr den Rest. Seit sie in der Siedlung angekommen war, hatte sie mörderische Kopfschmerzen, und die Anstrengung ständig überlaut zu sprechen, damit der Schwerhörige Mr Derry etwas mitbekam, hatte die Schmerzen noch schlimmer gemacht. Sie hätte ihm ins Gesicht schreien mögen, was sie dachte, aber sie war zu gehemmt, um etwas derart Dramatisches zu tun. »Ein Mann hätte sich nicht die Mühe gemacht, Ihnen zuzuhören«, entgegnete sie mühsam beherrscht und schickte sich an aufzustehen.
    »Ach, glauben Sie? Tja, vielleicht hab ich nichts übrig für faule junge Dinger, die lieber rumsitzen und Däumchen drehen, anstatt ihre Arbeit zu tun. Na, was sagen Sie dazu?«
    Sie fand ihn abscheulich. Er war senil, er war unverschämt, und er starrte vor Dreck. Alles, was sie hier, an diesem widerlichen Ort, berührt hatte, hatte seine Spuren an ihr hinterlassen. »Was erwarten Sie denn von mir?«, fragte sie. »Dass ich losziehe und die ersten drei Burschen festnehme, die mir über den Weg laufen, nur weil sie behaupten, man hätte Ihnen Geld gestohlen? Es gibt ja nicht mal einen Beweis dafür, dass sie überhaupt welches hatten.« Energisch stand sie auf und umfasste das Zimmer mit einer kurzen Geste.

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