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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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vollstopften.«
    »Ja, ja«, brummte sein Partner, der dies schon tausendmal gehört hatte. Er musterte die Szene durch einen Feldstecher. »Scheint gut organisiert zu sein... wahrscheinlich sollte es Punkt zwei losgehen.« Er pfiff durch die Zähne. »Da haben wir gerade noch Schwein gehabt... nur fünf Minuten länger bei der MacDonald und wir wären eingekesselt gewesen.« Er senkte das Glas. »Was zum Teufel läuft da?«, fragte er kopfschüttelnd. »Ich mein, wenn Amy tatsächlich da drinnen ist, warum wollen diese Idioten uns dann raushalten?«
    Sein Partner antwortete mit einem gereizten Seufzer. »Die Kleine ist nicht da drinnen. Wenn die Frau uns irgendwas Näheres über das T-Shirt hätte sagen können, das die Kleine an hatte, hätte ich ihr vielleicht geglaubt –«, er zuckte mit den Schultern, »aber so... Sie hat uns doch nur erzählt, was sie im Fernsehen gehört hatte: dass es blau war.«
    Sie hatten das bereits einmal durchgekaut. »Es geht nicht darum, was
wir
denken, George, es geht darum, was die Bande da denkt.« Er wies mit dem Kopf auf die Jugendlichen, die die Straßensperre besetzt hielten. »Immer vorausgesetzt, sie denken überhaupt.« Er hob wieder sein Fernglas. »Ach, du Scheiße! Los, versuch, den Chef zu erreichen, und sag ihm, er soll schleunigst seinen Hintern in Bewegung setzen, wenn er nicht will, dass die hier die ganze Siedlung abfackeln. Diese Idioten zapfen Benzin in Flaschen ab, und die Hälfte von ihnen hat Zigaretten in der Flappe. O Gott!« Er sah zu, wie ein Kind – höchstens zwölf Jahre alt – einem Freund eine Flasche zuwarf. »Du liebe Scheiße, was machen die denn da?«
    Das dachte auch Sophie Morrison, als sie scharf abbremste, um einer Meute betrunkener Jugendlicher in der Glebe Road auszuweichen. Einer von ihnen zeigte ihr den Finger, als wäre sie schuld daran, dass er zu betrunken war, um wie ein normaler Mensch die Straße überqueren zu können, und sie rief ihm durch die Windschutzscheibe lautlos »Du Wichser« zu. Sie erwartete, dass er mit der Faust wütend auf die Motorhaube ihres Wagens donnern würde – eine Standardreaktion in der Acid Row –, aber einer seiner Freunde zog ihn auf den Bürgersteig, und sie fuhr weiter, ihm ihrerseits den Finger zeigend. Im Rückspiegel sah sie, dass der Freund ihr gutmütig hinterherlachte, und verwandelte die abfällige Gebärde in ein fingerklimperndes Winken, als sie einen ihrer Patienten erkannte.
    Sie hatte einen gesunden Respekt vor den Leuten hier – wie alle ihre Kollegen –, aber sie ließ sich nicht von ihnen einschüchtern. Natürlich war sie vorsichtig. Wenn sie im Auto unterwegs war, fuhr sie immer mit geschlossenen Fenstern und verriegelten Türen, sie verwahrte ihr Handy sicher in ihrem Arztkoffer, ließ die Patienten wissen, dass sie niemals Betäubungsmittel, Kreditkarten oder größere Geldbeträge bei sich hatte, parkte abends nur in gut beleuchteten Abschnitten und mied dunkle Gassen, wenn sie zu Fuß unterwegs war. Als zusätzlichen Schutz trug sie in der Hosentasche stets ein handliches Pfefferspray, das sie bisher noch nicht hatte gebrauchen müssen.
    In den zwei Jahren, seit sie ihre Zulassung bekommen hatte und in die Praxis eingetreten war, hatte sie zu ihrer Verwunderung ihr Herz für die Acid Row entdeckt. Hier sprachen die Leute wenigstens offen und ohne Scham über das, was sie plagte – meist Depressionen, Einsamkeit, Krankheiten, die durch Alkohol-, Drogenmissbrauch oder Prostitution bedingt waren –, während die Bessersituierten im Einzugsbereich der Praxis ihre Alkoholsucht, Valiumabhängigkeit und Stimmungstiefs beharrlich als Symptome von »Stress« ausgaben. Es ärgerte sie, dass sie ihre kostbare Zeit daran verschwenden musste, diese Leute in ihrer Verlogenheit noch zu unterstützen; da waren ihr die Leute aus der Siedlung, die selten ein Blatt vor den Mund nahmen, wesentlich lieber.
    »Ham Se nich 'n paar Prozac für mich, Doktor? Mein Mann sitzt, und die Fratzen machen mich fertig...«
    Einfacher zu behandeln waren sie deswegen natürlich auch nicht. Wie bei allen Patienten bemühte sie sich vor allem, ihnen klarzumachen, dass es mehr bringen würde, ihr Leben zu ändern, als zu Drogen zu greifen; aber positive Reaktionen in der Acid Row waren weit befriedigender, weil es für die Patienten dort so viel schwieriger war, etwas zu ändern.
    Die meisten ihrer älteren Patienten waren naturgemäß Frauen, und alle hatte ihr, als sie ihre Arbeit aufgenommen hatte, praktisch

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