Der Nachbar
»Sie würden nicht so hausen, wenn sie zweihundert Pfund in einer Teedose hätten.«
Die brüske Bewegung erschreckte ihn. Er griff zu dem schweren alten Telefon, das auf dem Tisch neben seinem Sessel stand, und schüttelte drohend den Hörer. »Machen Sie, dass Sie wegkommen«, schrie er. »Ich ruf die Polizei an. Wer sind Sie? Was tun Sie hier?«
Sie wusste, dass sie ohnmächtig werden würde, aber es gab noch einen Moment der Klarheit, in dem sie die komische Seite der Situation sah. »Ich
bin
die Polizei«, hörte sie sich mit einem Lachen in der Stimme sagen, bevor ihre Knie nachgaben und sie ihm entgegenfiel.
Wohnung 406, Glebe Tower, Bassindale
Die alte Frau, die in der Wohnung unter Mr Derrys lebte, hielt mitten in ihrem Telefongespräch inne, um nach dem lauten Poltern von oben zu horchen. »Der verrückte Alte von oben tobt wieder mal rum«, sagte sie aufgebracht zu ihrer Freundin. »Mir wird eines Tages noch die Decke auf den Kopf fallen, wenn er so weitermacht. Ich frag mich wirklich, was er da oben treibt. Anscheinend schmeißt er jedes Mal, wenn er einen Wutanfall kriegt, das Mobiliar durch die Gegend.«
Die Freundin interessierte das alles nicht. »Um Himmels willen, Eileen!«, jammerte sie fünf Stockwerke weiter oben. »Hör mir doch endlich mal zu! Da draußen braut sich irgendwas Schreckliches zusammen. Ich schau mir das schon seit einiger Zeit durch Wallys Feldstecher an. Überall wimmelt's von jungen Burschen. Was meinst du, haben sie getrunken?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Du brauchst nur mal aus dem Fenster zu schauen. Es sind bestimmt mehrere hundert. Vorn an der Einmündung in die Bassindale Row schmeißen sie Autos um.«
Eileen Hinkley war immerhin so neugierig geworden, um einen Blick aus ihrem Fenster zu werfen, aber sie wohnte weiter unten im Haus, und Dächer versperrten ihr die Sicht. »Hast du mal bei der Polizei angerufen?«
»Ich komm nicht durch. Es ist immer besetzt.«
»Dann versuch's mit 999.«
»Das hab ich doch getan«, erklärte die Freundin gereizt, »aber jedes Mal, wenn ich mit der Polizei verbunden werde, krieg ich nur ein Band, auf dem es heißt, dass sie über die Unruhen in Bassindale Bescheid wissen und man sich weitere Anrufe sparen soll.«
»Du lieber Gott!«
»Genau! Aber ich seh weit und breit keinen einzigen Polizisten.« Ihre Stimme schwoll ängstlich an. »Ich weiß es genau, die werden uns alle umbringen. Eileen, was sollen wir bloß tun?«
Eileen sah zur Zimmerdecke hinauf, als ihr Porzellan unter den Erschütterungen einer krachend zugeschlagenen Tür zu klirren begann. »Wir können uns nur einsperren und das Beste hoffen«, sagte sie fest. »Wer weiß– vielleicht haben wir Glück. Vielleicht bringen sich die Strolche gegenseitig um – und lassen uns in Frieden.«
>Meldung an alle Polizeidienststellen
>28. 07. 01
>13 Uhr 55
>Bassindale
>Milosz Zelowski (alias Nicholas Hollis), Humbert Street 23, erbittet Polizeischutz oder Überführung an sicheren Ort.
>Wurde informiert, dass die polizeilichen Kapazitäten voll ausgelastet sind.
>NOTRUFLEITUNGEN ÜBERLASTET
>28. 07. 01
>14 Uhr 01
>Bassindale
>Anonymer Anruf: In der Bassindale Row werden Barrikaden errichtet.
>Vermutete Absicht: Polizeifahrzeugen die Zufahrt zu blockieren.
>NOTRUFLEITUNGEN ÜBERLASTET
>28. 07. 01
>14 Uhr 08
>Bassindale
>DRINGEND
>Streifenwagen 031 meldet, dass alle Zufahrtsstraßen in die Bassindale Siedlung blockiert sind.
>NOTRUFLEITUNGEN ÜBERLASTET
8
Bassindale
Die beiden Beamten in Streifenwagen 3l beobachteten die Errichtung der Straßensperren aus sicherer Entfernung. Sie hatten die Siedlung über die Forest Road South verlassen, weil sie über die Landstraße zur Bassindale Row North wollten, um auf diesem Weg zur Humbert Street zu fahren und nach Zelowski zu sehen. Aber es war zu spät. Die Bassindale Row war schon abgeriegelt, und als sie zurückfuhren, stellten sie fest, dass alle vier Zufahrtsstraßen zur Siedlung blockiert waren.
»Geschieht ihnen recht«, sagte der ältere der beiden Beamten, während er das Funkgerät auf Bereitschaft schaltete. »Ich hab ja immer gesagt, dass die hier aus der Siedlung eine Festung machen können, wenn sie entsprechend Wut im Bauch haben.« Er ließ das Fenster herunter und spie ins Gras am Straßenrand. »Wenn du mich fragst, sind die Planer und Architekten schuld. Die hätten erst mal mit der Polizei reden sollen, eh sie hier diese Betonburg hinstellten und sie mit lauter Gesindel
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