Der Nachbar
das Gleiche berichtet. Ihre Männer waren tot. Ihre Freundinnen waren in Heimen untergebracht. Sie gingen nie aus dem Haus, weil sie entweder invalide waren oder sich fürchteten. Oder auch beides. Abgesehen von Betreuerinnen, die zu jung waren, um zu verstehen, wovon sie sprachen, oder zu ungeduldig, um wirklich zuzuhören, hatten sie keinerlei Ansprache.
Sophie, die schnell merkte, dass diese Frauen sich nichts mehr wünschten, als hin und wieder einen kleinen Plausch mit ihresgleichen, regte drei der aktivsten unter ihnen an, eine Liste mit wohlgehüteten Telefonnummern zusammenzustellen, und legte so das Fundament zu einem wachsenden Netz telefonischer
chatlines
, das unter dem Namen
Hallo Freundschaft
bekannt wurde und mittlerweile sogar jenseits des Atlantik Interesse fand. Die letzte Anfrage bezüglich der Organisation war gerade von einer Wohnsiedlung in Florida eingegangen.
Ihr Handy bimmelte zweimal, und sie stieß einen gereizten Seufzer aus, ehe sie an den Bordstein fuhr. Zwei Klingelzeichen hieß, dass die Praxis dran war; drei, dass Bob, ihr Verlobter, sie sprechen wollte. Sie drehte am Kombinationsschloss ihres Koffers, klappte ihr Handy auf und drückte auf den Empfangsknopf. »Wehe, es ist nicht wirklich wichtig«, sagte sie zu der Sprechstundenhilfe am anderen Ende. »Ich habe Bob versprochen, spätestens um sechs in London zu sein.«
»Kommt drauf an, ob Sie noch in Bassindale sind«, antwortete Jenny Monroe. »Wenn nicht, muss ich eben versuchen, John umzuleiten. Der Mann klang ziemlich verzweifelt.«
»Was fehlt ihm denn?«
»Es geht um seinen Vater. Er sagt, er bekommt keine Luft. Er ist Asthmatiker – der Vater, meine ich – und schon ganz blau. Mr Hollis in der Humbert Street dreiundzwanzig. Es sind neue Patienten, die sich erst vor zwei Wochen in der Praxis angemeldet haben, und wir haben deshalb noch keine Unterlagen. Der Mann sagte, sein Vater sei einundsiebzig und nicht bei bester Gesundheit. Ich hab ihm geraten, einen Krankenwagen zu rufen, aber er sagte, das hätte er schon getan, aber es sei niemand gekommen. Er war fast in Panik. Können Sie das übernehmen?«
Sophie sah auf ihre Uhr. Ihr Dienst war schon seit zwei Stunden zu Ende, aber die Humbert Street lag gleich um die Ecke. Es war eine der Querstraßen, die die beiden Durchgangsstraßen, die Bassindale Row und die Forest Road, miteinander verbanden. Sie überlegte, wie sie fahren musste: am Ende der Glebe Road links in die Bassindale Row North, dann rechts in die Humbert Street und an deren anderem Ende nach rechts in die Forest Road South. Der Stopp lag praktisch auf ihrem Heimweg. Würde kaum eine Verzögerung bedeuten, wenn der Besuch nicht allzu viel Zeit beanspruchte. »Wo ist John im Moment?«
»In der Western Avenue. Zwanzig Minuten von dort weg.«
»Okay.« Sie klemmte den Hörer unters Kinn und nahm einen Stift. »Geben Sie mir noch mal Namen und Adresse.« Sie schrieb beides auf ihren Block. »Was glauben Sie, warum der Krankenwagen nicht gekommen ist?«
»Wahrscheinlich nicht genug Fahrzeuge. Die brauchen ja jeden Tag länger, wenn man sie ruft.«
Zerstreut griff Sophie in ihre Hosentasche und zog die schmale Pfeffersprühdose heraus, die in ihren Oberschenkel drückte. »Ich hab mich schon gefragt, ob da ein Unfall war oder was«, sagte sie, während sie das Spray in ihren Koffer legte. »Vor der Schule war ein riesiger Menschenauflauf.«
»Also, ich hab nichts dergleichen gehört.«
»Okay. Wenn ich zu spät komme und Bob schimpft, geb ich Ihnen die Schuld.«
»Wie immer«, sagte Jenny unbeeindruckt, bevor sie auflegte.
>Meldung an alle Polizeidienststellen
>28. 07. 01
>14 Uhr 15
>Bassindale
>NOTRUFLEITUNGEN ÜBERLASTET
>Bewohner der Carpenter Road l05 teilen mit, dass sich vor der Schule eine Menschenmenge sammelt.
>Es gibt ein Gerücht, dem zufolge ein Kind, auf welches Amy Biddulphs Beschreibung passt, gestern Abend in der Humbert Street gesehen wurde.
>Mögliches Angriffsziel – Milosz Zelowski, Humbert Street 23
>Auf Anrufe meldet Zelowski sich nicht
>Situation labil
>NOTRUFLEITUNGEN ÜBERLASTET
>28. 07. 01
>14 Uhr 17
>Bassindale
>HÖCHSTE DRINGLICHKEIT
>Police Constable Hanson hält sich vermutlich in Bassindale auf
>Meldet sich nicht
>28. 07. 01
>14 Uhr 23
>Polizei-Hubschrauber in Bereitschaft
9
Humbert Street 23, Bassindale
Der Mann blieb hinter der halb geöffneten Haustür in Deckung und entschuldigte sich mit gesenkter Stimme dafür, dass er die »Frau Doktor« an einem
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