Der Nachbar
wir's«, sagte er »Humbert Street einundzwanzig. Okay, Sophie ist ihre Hausärztin. Was meinen Sie?«, fragte er Jenny.
Die kaute auf der Unterlippe. »Sie ist erst neunzehn«, sagte sie mit Blick auf Melanies Daten. »Im sechsten Monat schwanger... zwei kleine Kinder... aber sie scheint Sophie gut zu kennen. Sie ist alle zwei Wochen zur Mutterschaftsvorsorge bei ihr.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Harry«, sagte sie besorgt. »Womöglich jagen wir ihr einen Riesenschrecken ein und lösen eine Fehlgeburt aus.«
»Na, ganz so zart besaitet sind die jungen Frauen heutzutage im allgemeinen nicht. Trotzdem...« Er wies auf den Kasten mit den Angaben über die nächsten Verwandten. »Wie sieht's mit ihrer Mutter aus? Gaynor Patterson? Sie wohnt nur zwei Straßen weiter. Könnten wir nicht sie anrufen und bitten, uns die Namen von einem von Melanies Nachbarn zu geben?«
«Okay.« Jenny tippte am Telefon Gaynor Pattersons Nummer ein. »Hallo«, sagte sie. »Spreche ich mit Gaynor Patterson?... Ah, mit Briony... Ja, es ist wichtig.« Eine ganze Weile lauschte sie schweigend der Stimme am anderen Ende der Leitung. »Gut, Schatz«, sagte sie schließlich, »dann gib mir doch jetzt mal beide Nummern, damit ich's versuchen kann... Nein, nein, sie wird bestimmt nicht böse werden. Weißt du, wer Dr. Morrison ist? – Richtig, Sophie. Und du warst schon mal bei uns in der Praxis? – Ich bin die Frau, die vorn am Empfang sitzt und die Leute aufruft, wenn sie dran sind.« Sie lachte ein wenig. »Ganz recht, die Alte mit der Brille. Also, schieß los.«
Sie schrieb auf ihren Block, dann hielt sie inne und hörte noch einen Moment zu, ehe sie sagte: »Nein, Schatz, versprich mir, dass du nicht hinausgehst, um deine Mama zu suchen. Es ist gefährlich draußen auf der Straße. Bleib schön im Haus, und wenn ich sie erreiche, sag ich ihr, dass du Angst hast und möchtest, dass sie nach Hause kommt. Abgemacht?... Na klar, ich ruf dich in ungefähr zwanzig Minuten wieder an. Ja, ich heiße Jenny. Bis gleich.«
Sie hob den Kopf und sah Harry bekümmert an. »Die Kleine hat Todesangst. Sie sagt, es sollte ein Protestmarsch sein, aber sie glaubt, dass etwas Schlimmes geschehen ist, weil Jungsbanden durch ihre Straße rennen und sie nichts hören kann außer Gebrüll und Geschrei. Sie hat Angst, dass ihrer Mutter und Melanie etwas zugestoßen ist, weil sie den Marsch angeführt haben.« Sie tippte auf ihren Block. »Sie hat mir ihre Handynummern gegeben, aber sie sagt, sie versucht schon seit einer halben Stunde anzurufen und bekommt immer nur die Mailbox. Ich habe ihr versprochen, es für sie zu versuchen.«
Harry zauste sich beunruhigt das schüttere Haar, so dass es in feinen Büscheln in die Höhe stand. »Tun Sie das«, sagte er zerstreut. »Das sind wahrscheinlich die Leute, mit denen wir reden müssen. Auf jeden Fall scheinen sie einen gewissen Einfluss zu haben, wenn die Idee mit dem Marsch von ihnen stammt.« Er hielt einen Moment inne. »Ich fass es einfach nicht«, platzte er heraus. »Auf der Straße gibt's Randale, und die lassen ihre Kinder allein! Wer sind die Krawallbrüder? Das möchte ich wirklich wissen. Denen dreh ich eigenhändig den Kragen um. Hat dieses kleine Mädchen gesagt, ob sie mal versucht hat, bei Melanie Patterson anzurufen?«
Jenny nickte. »Sie sagte, die kleine Rosie hätte sich gemeldet, aber auf der Straße war so lautes Geschrei, dass sie nichts hörte... Da hat sie aufgelegt und es noch einmal versucht. Bei ihrem zweiten Anruf war belegt, und sie vermutet, dass Rosie nicht richtig aufgelegt hat, was wahrscheinlich bedeutet, dass Melanies Kinder auch allein sind.«
»Wie alt ist Rosie?«
Jenny blickte auf den Bildschirm. »Vier.«
»Guter Gott!« Er hob die Stimme und fragte den Polizisten: »Gibt es bei Ihnen was Neues?«
»Tut mir Leid, Sir.« Der junge Mann hielt sein Funkgerät hoch. »Alles beim Alten. Der Hubschrauber meldet immer noch, dass allen Wagen an den Barrikaden die Zufahrt verwehrt wird. Sieht nicht gut aus. Eine Kollegin hat's bös erwischt – sie hat Kopfverletzungen –, und wir können nicht zu ihr.«
»So eine Sauerei!«, schimpfte Harry erbittert. »Bei Ihnen hätte man das doch kommen sehen müssen! Wer hat überhaupt die Schnapsidee gehabt, diesen Mann hier reinzusetzen? Ihnen muss doch klar gewesen sein, dass für die meisten Leute in der Siedlung ein Pädophiler das gleiche ist wie ein Ungeheuer.« Er sandte zornige Blicke zu Fay, als machte er sie
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