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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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Jeder über siebzig ist senil. Das denken Sie doch, oder?«
    »Manchmal«, bekannte er. »Sie können aber auch ganz schön unverschämt sein – die alten Leute, mein ich. Führen sich auf, als wär ihnen jeder Respekt schuldig, ganz gleich, ob sie ihn verdienen oder nicht.«
    »Als wir jung waren, war Achtung vor dem Alter eine Selbstverständlichkeit.«
    »Kann schon sein, aber heutzutage ist das anders. Da kann man den Respekt nicht mehr einfach verlangen. Man muss ihn sich verdienen.« Er schnalzte mit den Fingern. »Ich hab zum Beispiel überhaupt kein Problem damit, Sie zu respektieren – Sie tun was –, aber es gibt genug andere, die ihre Tür nicht aufgemacht hätten.«
    »Ich hätte es wahrscheinlich auch nicht getan, wenn sie mich nicht angerufen und mir erklärt hätten, was los ist. Sie sind nicht gerade der Traum der einsamen alten Frauen, Jimmy.« Die arthritischen Finger wie Klauen um den Wattebausch geschlagen, tupfte sie vorsichtig die Haut rund um die lange Schnittwunde am Kopf der jungen Polizistin ab. »Das arme Ding. Wer tut nur so etwas?«
    »Muss sie sterben?«
    »Das glaube ich nicht. Ihr Puls ist kräftig.«
    »Sie hat verdammt viel Blut verloren.«
    »Kopfverletzungen bluten immer stark, aber meistens sehen sie schlimmer aus als sie sind.«
    Er beneidete sie um ihre Gelassenheit. »Sie nehmen das alles so ruhig.«
    »Schreien und die Hände über dem Kopf zusammenschlagen bringt gar nichts. Im Übrigen ist so ein Schädel ziemlich stabil und bricht nicht so leicht.« Sie wies mit einer Kopfbewegung zum Badezimmer. »Gehen Sie rüber und machen Sie sich sauber«, befahl sie. »Ich verbinde inzwischen die Wunde. Wenn Sie fertig sind, bringen Sie mir das Riechsalz. Es steht im Apothekerschränkchen auf dem zweiten Bord. Eine grüne Flasche. Mal sehen, vielleicht können wir sie wieder zu Bewusstsein bringen.«
    Wenn Jimmy später daran dachte, kam es ihm immer wie ein kleines Wunder vor. Das Fläschchen einmal unter der Nase der jungen Frau vorbeigezogen, und sie schlug die Augen auf und fragte, wo sie sei. Warum tut man das? überlegte er. War es wichtiger zu wissen,
wo
man war, als
wer
man war? Brauchte man die Gewissheit, an einem sicheren Ort zu sein, ehe man irgendetwas anderes zur Kenntnis nehmen konnte?
    Was auch immer, er war tief erleichtert. Er hatte gewünscht, sie würde nicht sterben müssen. Er hatte nichts übrig für Leute, die Frauen schlugen, auch wenn die Frauen Polizistinnen waren.
    Eileen beobachtete das Wechselspiel der Emotionen in seinem Gesicht und gab ihm mit dem Handrücken einen Klaps auf den Arm. Sie räusperte sich heiser, dann sagte sie: »Das hat sie Ihnen zu verdanken.«
    »Ich hab nichts getan.«
    »Sie hätten sie liegen lassen können.«
    »Hab ich ja«, gestand er aufrichtig, »bis mir einfiel, dass ich auf dem Scheißliftknopf meinen Fingerabdruck hinterlassen hatte.« Sie runzelte unwillig die Stirn. »Tschuldigung. Wenn ich im Stress bin, werd ich gern mal 'n bisschen plastisch.«
    Sie lachte wieder. »Der Notarzt hat mich gewarnt. Er sagte, ich solle einen blutverschmierten Nigger erwarten, der gerade erst aus dem Knast entlassen worden ist und keinen Satz zu Ende bringen kann, ohne ihn mit Kraftausdrücken zu spicken.« In ihren Augen blitzte Belustigung angesichts seiner Verblüffung darüber, dass die Beschreibung so ungeschminkt gewesen war. »Er hat gesagt, er wüsste nicht, wie zutreffend die Beschreibung sei, er gäbe nur weiter, was er von Ihnen selbst gehört hätte... aber in seinen Augen wären Sie ein Held und er würde Geld drauf setzen, dass man Ihnen vertrauen kann.«
    Sie sah, wie Röte ihm ins Gesicht stieg. »Geben Sie mir einen Kuss«, sagte sie barsch, »und dann ziehen Sie ab und suchen Sie Ihre Freundin und ihre Kinder. Ich hoffe, sie sind alle wohlauf.«
    Er drückte einen Kuss auf die runzlige Haut.
    »Und sehen Sie zu, dass Sie um neun zurück sind«, schloss sie streng, »sonst lass ich mich nie wieder auf eine Abmachung mit Ihnen ein.«
Vor dem Haus Humbert Street 23
    Nach Kevin Charteris' Selbstverbrennung brach das Chaos aus. Kopflos fliehend jagten die Menschen in alle Richtungen auseinander, rempelnd, stoßend, ohne Rücksicht auf den anderen in ihrem blinden Streben, sich vor der Feuersbrunst auf der Straße zu retten. Melanie, die unter ihrem Bruder auf dem Asphalt lag, sah wie Kevin von seinen Freunden weggetragen wurde. Sie benutzten ihre Lederjacke als Trage. Seine Kopfhaut war fleischrot und wund vom Feuer, das

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